„Musik, der das Tönende abhanden gekommen ist”, so charakterisiert Salvatore Sciarrino die Kompositionen seines jüngeren Kollegen. Der Italiener lotet Grenzen aus und fordert dabei Interpreten wie Zuhörer ganz.
Die Musik von Francesco Filidei (* 1973) ist mit einer Spannung geladen, die sich auf den Hörer unmittelbar überträgt. Der Komponist selbst hat von einem Ausloten der Grenzen des musikalischen Einsatzes von Geräuschen gesprochen, wobei dies mit einer unerhörten Radikalität und Ausdruckskraft geschieht, die auch die Körperlichkeit des Ausführenden mit einbezieht.
Zu Filideis Erfahrungen gehört auch die des Interpreten, der direkte Kontakt mit der Orgel. Als Organist, u. a. als Assistent von Jean Guillou in St. Eustache zu Paris, hat er zahlreiche zeitgenössische Werke interpretiert und Kompositionen von Wolfgang Rihm, Jaques Lenot, Mauro Lanza, Helmut Oehring u. a. uraufgeführt. Als Komponist hat er bedeutende internationale Auszeichnungen erhalten, u. a. den Musikpreis Salzburg, ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude Stuttgart und der Casa de Velázquez in Madrid.
Salvatore Sciarrino ist eine prägnante und erhellende Definition der Klangwelt Filideis zu verdanken:
„Versuchen Sie, sich eine Musik vorzustellen, der das Tönende abhanden gekommen ist: als Rest bleibt Gemurmel, ein Skelett, leicht, aber reich an quasi mechanischen Geräuschen, die durch das Berühren und Entlangstreifen der Hände über die Instrumente entstehen. […] Es geht nicht um intellektuelle Lösungen, sondern um das Erschließen einer kostbaren, poetischen Welt.”
Filideis Formverständnis lässt eine Verbundenheit mit der Vergangenheit erkennen, die mit schöpferischer Freiheit wiedererlebt wird, aber nicht auf das Bewusstsein der Gegenwart verzichtet. Die Ausformung jeder klanglichen Erfindung, jedes „Geräusches” ist von absoluter, rigoroser Präzision und überrascht den Hörer mit einer genuinen klanglichen Wiederentdeckung, deren Evidenz stets beunruhigend ist. So können auch lange Pausen wie die auf den ersten Seiten von Macchina per scoppiare pagliacci für doppeltes Ensemble und 6 Solisten (2004) von eindringlicher Unruhe und Spannung erfüllt sein. Filidei weiß auch andere ungewöhnliche Mittel (wie Materialien und Gegenstände jeglicher Art) und Vogelstimmen einzusetzen.
Über ungewöhnliche Instrumente verfügen auch die sechs Vokalinterpreten und sechs Perkussionisten von N. N. Sulla morte dell’anarchico Serantini (2008). Es handelt sich um ein weitläufiges Fresko, das auch eine nicht konventionelle Theaterdimension impliziert und den Endpunkt einer sich über verschiedene frühere Stücke erstreckende Recherche und Reflektion zur Figur des jungen Anarchisten darstellt, der am 5. Mai 1972 von der Polizei während einer Demon-stration zusammengeschlagen wurde und dann im Gefängnis seinen Verletzungen erlag. Filidei schreibt: „Seine Geschichte ist eine derart explosive Mischung von Ungerechtigkeit, Rebellion, Einsamkeit und Leidenschaft, dass sie allein ausreicht, um eine Epoche und eine ganze Generation widerzuspiegeln. Ich bin von dieser Geschichte ausgegangen, um meine eigene komponierend zu rekonstruieren”. Die ersten fünf der sechs Sektionen benutzen Texte des Philosophen Stefano Busellato, die jeglichen narrativen Charakters entbehren. Filidei schreibt weiter: „Alle Interpreten sind körperlich komplett involviert, in der Partitur sind sogar die Bewegungen des Halses und des Kopfes notiert: Der erste Teil stellt einen Kampfschauplatz dar, mit dem Heulen von Sirenen, den Trillerpfeifen der Polizei sowie den Instrumentalisten, die mit dem Stampfen der Füße auf dem Boden marschierende Einheiten nachahmen; der zweite gibt die Empfindungen und Gedanken im Innern des gemarterten Körpers Serantinis, mit offenkundigen Bezügen zur Passionsgeschichte, wider; der letzte Teil ist eine Art weltlicher Ritus, bei dem alle Ausführenden hinter ihrem schwarzen Tisch sitzen und sich mit Zungen- und Fingerschnalzen, geräuschvollem Atmen, in die Hände schlagen, Küssen, Husten und Schreien schier entfesseln. Diese Hauptteile der Komposition werden durch einen Gesang und zwei Intermezzi, deren Charakter zwischen dem Grotesken und Nostalgischen angesiedelt ist, voneinander abgesondert.”
Die Uraufführung von N. N. hat im April 2009 beim Festivals Printemps des Arts von Monte Carlo stattgefunden.
Paolo Petazzi