Das schmale Œuvre des Messiaen-Schülers Jean Barraqué ist um einige Werke reicher. Aus dem seit Kurzem zugänglichen Nachlass wird eine Reihe von Frühwerken nun erstmals aufgeführt.
Jean Barraqué (1928–1973) gehört wie auch Alban Berg und Edgard Varèse zu den Komponisten, die eine auffallend kleine Zahl an Werken publiziert haben. Die Kürze ihrer Publikationslisten wird indes durch den Gehalt, die Bedeutung ihrer Werke mehr als kompensiert. Als Barraqué 1960 den italienischen Mäzen Aldo Bruzzichelli kennenlernte, fand er in ihm seinen Verleger, bei dem er sechs Werke veröffentlichte, neben der Sonate pour piano (1950–1952) vier Werke mit Gesang und Ensemble in unterschiedlicher Besetzung und schließlich sein 1962–1968 entstandenes Concerto für Vibraphon, Klarinette und sechs Instrumentalgruppen. In den 1990er Jahren hat die Association Jean Barraqué die Publikationsrechte an diesen Werken dem Bärenreiter-Verlag übertragen.
Es war schon seit einiger Zeit bekannt, dass Barraqué vor seiner gewaltigen Sonate eine Reihe anderer Kompositionen geschrieben hatte, ohne dass man darüber Näheres wusste. Nicht nur auf sein Frühwerk bezogen, sondern in der Wahrnehmung seines Gesamtschaffens, zu dem auch ein essayistisches Œuvre von hohem Rang gehört, gilt Barraqué noch immer als weithin unbekannte Größe. Im Gegensatz zum extrovertierten Pierre Boulez war Barraqué der stille, in sich gekehrte andere der aus der Messiaen-Klasse hervorgetretenen Komponisten.
Es ist ein Glücksfall, dass Barraqué seine frühen Werke aufbewahrt hat. Als wahrer Schatzkoffer erwies sich jenes unspektakuläre, lange auf einem Dachboden in Paris aufbewahrte Gepäckstück mit seinem musikalischen Nachlass, der erst vor kurzer Zeit gesichtet werden konnte. Der Koffer enthielt eine Fülle von Autographen, darunter viele aus den 1940er Jahren. Sie schließen unsere Wissenslücke von Barraqués Anfängen und dokumentieren seine vielfältige kompositorische Tätigkeit vor der Sonate.
Als repräsentative kammermusikalische Komposition aus der frühen Schaffensphase ist Quatuor à cordes, Barraqués einziges Streichquartett, von besonderem Interesse. Zu diesem in der zweiten Jahreshälfte 1949 entstandenen Werk existiert neben den Reinschriften der vier Sätze eine große Anzahl an Skizzen, Vorstadien und diversen Reihentabellen – es handelt sich um eine äußerst differenziert formulierte Musik auf dodekaphoner Basis. Aufgrund der reichen, aber komplexen Quellenlage ist es möglich, einen faszinierenden Einblick in die Werkgenese zu erhalten. Barraqué hat gelegentlich die Reihenstruktur in die Manuskripte eingezeichnet, formale Einschnitte (Reprisen etc.) verbal hervorgehoben und in den Nebenquellen mitunter mehr Angaben zur Dynamik und Tempoangaben als in der Reinschrift notiert. Auch wenn man diese Details in der Edition berücksichtigt, bleiben die Dynamik und Phrasierung der filigranen Textur lückenhaft, für die Außensätze fehlen die Tempoangaben. Gespür und Einfühlungsvermögen der Interpreten sind daher in besonderer Weise gefragt. Mitunter erweist sich der Klangfaden als überaus zart und fragil gesponnen, im dritten Satz, „Thème et variations“, finden sich längere einstimmige Abschnitte von berückender poetischer Zartheit. In den Skizzen zum virtuosen „Final“ verwendet Barraqué aus der tradierten Rondoform stammende Begriffe, und zwar „Refrain“ für die von ihm imitatorisch streng konzipierten und „Couplet“ für die freien Abschnitte. In diesem lebhaften „Rondofinale“ – aber nicht ausschließlich hier – finden sich viele Wegmarken, die bereits auf die Sonate pour piano (1950–1952) hinweisen. Das Quatuor wurde am 5. Oktober 2011 beim Festival „Musica Strasbourg“ vom Quatuor Diotima uraufgeführt werden.
Darüber hinaus wird Nicolas Hodges eine Reihe von frühen Barraqué-Klavierwerken uraufführen. Sie sind bis auf Retour, das 2009 in einer Anthologie bei Bärenreiter erschienen ist (BA 8762), bisher ungedruckt und unaufgeführt geblieben.
In dem laut Manuskript zwischen September 1947 und März 1948 entstandenen Klavierwerk Retour findet sich noch eine tonale Disposition. Nicht mehr tonal, aber auch noch nicht konsequent zwölftönig gearbeitet zeigt sich das undatierte, stilistisch ins Jahr 1949 einzuordnende Intermezzo. Die eingangs exponierten Akkorde mit ihren Strukturen bilden eine Basis für die thematische und harmonische Disposition dieses eindrucksvollen Stücks. Die übrigen Werke, Deux morceaux pour piano, Pièce pour piano sowie Thème et variations sind zwölftönig angelegt und besitzen bis auf ein Stück eine besondere Nähe zum Quatuor à cordes, da es sich um Klaviertranskriptionen von drei Sätzen des Quartetts handelt. Im Gegensatz zum Quartett notiert Barraqué in den Klavierstücken wesentlich weitläufigere Taktstriche. Die kleinteiligere Taktaufteilung im Quartett ist offenkundig der Aufführungspraxis geschuldet. In den wesentlich weiter dimensionierten Takten der Klavierfassungen verdeutlicht Barraqué zugleich die von ihm intendierte musikalische „Interpunktion“. Die Klavierversionen von drei Quartettsätzen zeichnen sich dadurch aus, dass der Musik mithilfe weniger Eingriffe ein pianistischer Gestus verliehen wird: Die „kristalline“ Textur lässt sich auch auf dem Tasteninstrument überzeugend darstellen, wobei das Perkussive und stets Diminuierende des Klaviertons diese Musik deutlich anders und eigenständig inszeniert. Faszinierend: In Straßburg wird in zwei direkt aufeinander folgenden Konzerten die Möglichkeit des Vergleichs geboten!
Es ist beeindruckend, in welch kurzer Zeit Barraqué seine Musik weitgehend von Stiladaptionen befreit, um zu persönlichen avancierten Formulierungen vorzudringen, wie in der Sonate pour violon seul (1949), die vor zwei Jahren in Paris von Carolin Widmann uraufgeführt worden ist. Sie wird zusammen mit den bereits erwähnten Werken ihre deutsche Erstaufführung im Rahmen von „Ultraschall Berlin“ am 20. Januar 2012 erleben. In diesem Rahmen wird Nicolas Hodges die Sonate pour piano auf der Basis einer kritisch-praktischen Neuedition spielen.
Auf dem Programm stehen zudem die Uraufführungen ausgewählter früher Vokalwerke. Von besonderer Bedeutung sind hier die Klavierlieder Trois mélodies (1950), die die „Keimzelle“ für das spätere vom Komponisten veröffentlichte Werk Séquence gebildet haben. Die in Straßburg und Berlin erst- und uraufgeführten Werke erscheinen im kommenden Jahr bei Bärenreiter, eine CD-Produktion dieses Werkkomplexes ist von „Ultraschall“ vorgesehen.
Michael Töpel
aus [t]akte 2/2011