Oft verwendet und doch vielen unklar. „Urtext“ ist ein schillernder Begriff, unter dem viel Unterschiedliches verstanden wird. Der Beethoven-Herausgeber Jonathan Del Mar erläutert, nach welchen Prinzipien er vorgeht.
Wofür braucht man eine Urtext-Ausgabe?
Nun, wollen Sie die Noten spielen, die der Komponist komponiert hat, oder zufällige und falsche Noten, die irgendwann in eine Ausgabe hineingerutscht sind?
Ist der Urtext nicht ganz einfach im Manuskript des Komponisten zu finden?
Nein, so einfach ist das nicht. Oft denkt ein Komponist weiter, er ändert seine Meinung, aber das Manuskript ist schon beim Drucker. Was also muss er tun? Er fragt den Verleger nach einem Korrekturabzug und schreibt die letzten Änderungen hinein. Wenn wir dann den Erstdruck anschauen, steht dort etwas ganz anderes als im Manuskript, was ziemlich sicher auf die letzten Änderungen im Korrekturabzug hinweist.
Aber natürlich kann man auch im Manuskript noch vieles entdecken. Oft verwenden Herausgeber für ihre Ausgaben schlechte Kopien, auf denen ein Pünktchen oder ein Loch wie ein Staccatozeichen aussehen. Genauso kann es passieren, dass man den Ausdruck eines Mikrofilms untersucht und eine Note sieht wie ein F aus, ist aber im Manuskript zweifelsfrei ein G. Niemand kann sagen, wie das geschehen kann, aber es geschieht! Das bedeutet, dass sich Herausgeber, die sich der Mühe unterziehen, das Autograph zu untersuchen, immer noch Entdeckungen machen können.
Was also bedeutet Urtext für Sie?
Eine Ausgabe, die sorgfältig und erschöpfend alle Quellen untersucht, um nach bestem Wissen und Gewissen der Absicht des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen.
Was bedeutet „Quellen“?
Alles, an dem der Komponist seinen Anteil hatte. Also nicht allein sein Manuskript, sondern auch eine Abschrift durch einen Kopisten mit Korrekturen des Komponisten, ebenso Erstdrucke, an denen er Änderungen vorgenommen hat, Briefe an den Verleger, in denen Fragen des Werks diskutiert wurden, einfach alles, was Bedeutung für eine Edition hat. Manchmal sogar noch mehr: Nehmen Sie zum Beispiel handschriftliche Stimmen, die der Komponist für eine Aufführung verwendet hat und für die er Änderungen diktiert hat. Die Musiker tragen sie sich ein, und dann werden diese Stimmen als Vorlage für die Erstausgabe verwendet. Wenn die handschriftlichen Stimmen dann vernichtet werden, haben wir nur noch den Erstdruck. Diese gedruckten Stimmen sind eine bedeutende Quelle, weil sie auf authentische Korrekturen des Komponisten in den Proben zurückgehen.
Warum muss es immer wieder neue Editionen geben?
Am deutlichsten ist dies, wenn ein verloren geglaubtes Autograph wieder auftaucht. Dies war besonders bei Werken von Mozart, Beethoven, Schubert und Mendelssohn der Fall, die im Krieg aus Berlin an sichere Orte ausgelagert wurden. Danach konnte sich unglücklicherweise niemand daran erinnern, wo sie waren. So galten sie als verschollen, bis sie 1977 in Polen auftauchten. Vorher sind viele Editionen veröffentlicht worden, die danach alle revidiert werden mussten.
Auch Auktionshäuser tragen dazu bei, dass wir nicht vergessen, denn einige Manuskripte sind in Privatbesitz, so dass Forscher nicht an sie herankommen. Oft kommen solche Dokumente zur Versteigerung, und wir haben kurz die Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen. Noch mehr Glück haben wir, wenn eine öffentliche Institution das Autograph erwirbt, so dass es für Wissenschaftler zugänglich wird und für die nächste Edition verwendet werden darf.
Ein weiterer Grund, warum alte Ausgaben, sogar Urtext-Editionen, von neuen ersetzt werden, ist – man muss es sagen –, dass nicht jeder Herausgeber seine Aufgabe so gut erledigt wie ein anderer. Er macht Fehler, trifft dumme Entscheidungen, die jeder Musiker sofort als falsch erkennt, er übersieht offensichtliche Dinge und entscheidet, dass eine Quelle keine Relevanz hat, obwohl ein anderer Forscher sie für sehr wichtig hält. So belegt ein Herausgeber die Fehlerhaftigkeit einer alten Ausgabe und beweist, dass seine Lösungen die des Vorgängers ersetzen muss.
Was haben Musikerinnen und Musiker von Urtext-Ausgaben?
Das hängt davon ab, um welche Ausgabe es geht. Manche sind so schlecht gemacht, mit so geringem Verstand für die Musik und ihre Tradition, dass sie schädlich sind. Sogar die frühere Ausgabe war besser! Sie mag Fehler enthalten, aber die kann man verbessern. Wenn einem Musiker aber ein fehlgeleiteter Forscher erklärt, dass ein A in der Erstausgabe „offensichtlich“ ein G sein müsse, dann wird er von der (augenscheinlichen) Autorität des Herausgebers eingeschüchtert sein und G spielen, auch wenn der Komponist wirklich A meinte, so unerwartet es dem Herausgeber auch vorkommt.
Wenn man Glück hat, verfügt eine Ausgabe über einen Kritischen Bericht. Manche haben so etwas nicht, und man muss dann dem „unfehlbaren“ Verstand vertrauen, auch bei Druckfehlern. Das fordert einen Vertrauensvorschuss, der oft unbegründet und unberechtigt ist.
Ein Nutzer sollte also, bevor er sein Geld ausgibt, erwarten dürfen, dass er einen Kritischen Bericht bekommt, in dem ihm die editorischen Entscheidungen erläutert werden. Auch wenn es einen gibt, ist nicht klar zu sagen, ob eine Edition gut oder schlecht ist. Die einzige Möglichkeit wäre es, andere Musiker zu fragen, ob sie Erfahrungen mit Ausgaben dieses Komponisten bei diesem Verlag haben, und ob sie plausibel erscheinen. Sonst bleibt nur, sich zu informieren, ob ein Herausgeber die Quellen sorgfältig geprüft hat, ob er seine Hausaufgaben mit Verantwortungsbewusstsein gemacht hat und ob er einen exakten Notentext erarbeitet hat, der alte Fehler beseitigt. Mit Glück kann man so etwas finden. Und zum Schluss: Die Ausgabe sollte klar auf gutem und robustem Papier gedruckt sein, auf dem man Eintragungen machen und wieder wegradieren kann, ohne Löcher zu riskieren.
(aus [t]akte 2/2018 – Übersetzung: Johannes Mundry)