Der Zeitgenosse Antonín Dvoráks hat ein facettenreiches Œuvre hinterlassen. Vor allem die großen Opern und sinfonischen Dichtungen von Zdenek Fibich sind auch aus heutiger Sicht wirkungsvolle Kompositionen. Mit seinen szenischen Melodramen schuf er gar ein eigenes Genre.
Es scheint wie ein ironischer Widerspruch, dass Zdenìk Fibich immer wieder als „der” tschechische Romantiker apostrophiert wurde, jedoch sowohl aus Sicht seiner Landsleute als auch des Auslands zu kosmopolitisch, das heißt zu wenig „tschechisch” in einem emphatischen Sinne, komponierte.
Zdenìk Fibich (1850–1900) war durch sein Elternhaus und sein Studium in Leipzig und Mannheim vor allem durch die deutsche Musiktradition geprägt – übrigens ebenso wie der neun Jahre ältere Antonín Dvoøák und der Begründer der tschechischen Nationalmusik, Bedøich Smetana. Fibich fühlte sich Robert Schumann verpflichtet, reihte sich in die Weber-Gefolgschaft der romantischen Oper nach Der Freischütz ein und reagierte intensiv auf Richard Wagner, wie alle seine reifen Opern demonstrieren. Anders als die nationaltschechischen Exponenten Smetana und Dvoøák jedoch sublimierte er in seinem Schaffen die böhmische Folklore zu einem unterschwelligen Bezug und stellte sie nur in wenigen Fällen als prominentes Idiom heraus.
Dramatisches Hauptwerk: Šárka
Für die Einschätzung als „un-tschechischer Tscheche” ist seine bekannteste, vorletzte Oper Šárka ein gutes Beispiel, ein von allen Seiten unter die (fast) vergessenen Meisterwerke eingereihtes Stück. Sie ist neben der frühen Oper Blaník die einzige, in der Fibich ein Sujet aus der Historie seines Landes vertont. Die Geschichte von Šárka geht auf den Gründungsmythos Prags und damit der tschechischen Identität zurück, wie ihn Chroniken des 12. Jahrhunderts überlieferten und wie ihn das 19. Jahrhundert in Sagensammlungen in drastischen Farben ausschmückte. Smetana thematisiert sie im dritten Teil von Mein Vaterland, und Janácek versuchte sich an dem Stoff in einer frühen Oper, die ihm zeitlebens wichtig blieb. Šárka ist die Protagonistin des „Mädchenkriegs”, der sagenumwobenen Schlacht der Amazonen in der Nachfolge der Fürstin Libuše (Libussa), die im 10. Jahrhundert als Seherin und Richterin die böhmischen Fürsten befriedete und die Stadt Prag am Fuße des Vyšehrad bauen ließ. Nach Widerständen ihrer Untertanen hatte Libussa den Bauern Premysl zum Mann genommen und mit ihm das Premysliden-Geschlecht gegründet, auf das sich die tschechische Identität zurückführt. Nach ihrem Tod – hier setzt die Handlung von Šárka ein – übernimmt Premysl mit seiner Gefolgschaft die Regierung und unterwirft die Frauen. Die Amazone Šárka will sich dieser Entmachtung nicht beugen und lockt Ctirad, den ersten Krieger Premysls, in einen Hinterhalt: Sie lässt sich an einen Baum fesseln. Als er sie befreit, verlieben sich beide ineinander. Der bittere Kampf der Geschlechter nach dem Muster des Penthesilea-Stoffs schlägt in dieser Opernversion in eine Romeo-und-Julia-Geschichte um, denn Šárka muss sich gegen ihre Mädchen stellen, um Ctirads Leben zu retten. Die Sage erzählt verschiedene Fassungen, alle schließen damit, dass die Frauenregentschaft im Mädchenkrieg blutig beendet wurde. In der Version von Anežka Schulzová, Fibichs Schülerin und dritter Frau, verrät Šárka ihre Gefährtinnen an Premysl, dessen Armee alle Mädchen erschlägt. Ihre Schuldgefühle treiben Sárka in Wahnvorstellungen und schließlich in den Tod. Sie stürzt sich im Sturm von einem Felsen, Ctirad bleibt zurück.
Sämtliche Kommentatoren weisen Fibichs Šárka eine meisterliche Gestaltung nach – mit dramatischem Aplomb, subtiler, leitmotivischer Themenverbindung, raffinierter Harmonik und grandioser musikalischer Erfindung, reizvollen Gesangsrollen mit einem weiten Ausdrucksspektrum und dem Anspruch von Wagner-Partien – allein tschechisches Kolorit sticht nicht hervor, was eigentlich niemanden stören müsste. Nur hat sich Fibich damit international nicht als Nationalkomponist und Nachfolger Smetanas positionieren können, dessen Oper Libuše er überdies inhaltlich mit Šárka fortsetzt. Dem hymnisch-erhabenen Ton Smetanas in Libuše setzt Fibich in Šárka einen dramatisch geschärften, lyrisch glutvollen Stil entgegen – Assoziationen zu Die Walküre und Tristan und Isolde drängen sich musikalisch wie stofflich auf. Šárka endet in einem Wahngesang der Heldin, als gespenstischer Chor erscheinen ihr die Schatten der erschlagenen Gefährtinnen, die sie verraten hat. Ein eindrücklicher und experimenteller Schluss, den Janácek in einer Rezension 1899 ausführlich kommentierte. Janácek stand Fibich zwiespältig gegenüber, was in Bezug auf Šárka wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass er den Stoff in einer anderen Version 1888/89 selbst komponiert hatte und Fibich die gelungenere und erfolgreichere Oper schuf, „eine aber in jeder Beziehung souveräne Kunstleistung von klassischem Zuschnitt … sensibel in der Verteilung von Licht und Schatten, stimmig im Timing groß angelegter Steigerungsphasen und gekonnter Übergänge”, wie Hans-Klaus Jungheinrich in seinem Buch Hudba. Annäherungen an die tschechische Musik (Bärenreiter 2007) schreibt und von „meisterlichen Schraubenwindungen einer tristannahen Leidenschaftsmusik” spricht, der Janácek letztlich fern gestanden sei. Dieser vergleicht seinen Eindruck von Fibichs Šárka mit einem „großen mächtigen See, durch den der Wind tobt”. Doch würde der „Schaum der brechenden Wellen sich nie mit den Wolken mischen”.
Mit der drei Jahre vor seinem Tod vollendeten und am 28. Dezember 1897 im Nationaltheater Prag uraufgeführten Oper errang Fibich höchste Anerkennung und seinen endgültigen Durchbruch, der sich allerdings auf sein Heimatland beschränkte. Anders als Dvoøák, der durch seine Aufenthalte im Ausland international auf sich aufmerksam machte und dessen Œuvre durch Verleger, Kritiker und Dirigenten verbreitet wurde, blieb Fibich eine lokale Größe. Seine Werke wurden zwar am Prager Nationaltheater bis Ende der 1930er-Jahre regelmäßig aufgeführt, hatten aber später kaum noch eine Chance auf weitere Verbreitung, wohingegen Smetana, Dvorák und Janácek, später auch Martinu, im Ausland als die tschechischen Exponenten erfolgreich waren.
Literaturopern „Der Sturm” und „Die Braut von Messina”
Doch ist Šárka ein unbestrittenes Meisterwerk des 19. Jahrhunderts, und es lohnt sich, sich wieder mit ihr zu beschäftigen, ebenso mit den ihr zeitlich benachbarten, nicht weniger reizvollen Die Braut von Messina nach Schiller (1882/83), Der Sturm nach Shakespeare (1893/94) und einer äußerst originellen Schöpfung: den szenischen Melodramen, genauer: der Trilogie Hippodamie (1890/91) nach einer Dichtung von Jaroslav Vrchlický, die im 19. Jahrhundert zahlreiche Nachfolger inspirierte. Während seine sieben vollendeten Opern reizvolle und dankbare Gesangspartien aufweisen, beschäftigte Fibich sich dort mit einer ästhetischen Fragestellung, die auf das Problem der natürlichen und ausdrucksvollen Deklamation zielt und letztlich zum Melodram führt. Fibich war ein äußerst gebildeter und belesener Komponist, der mit mehreren Dichtern eng befreundet war und zusammenarbeitete.
Schon in Die Braut von Messina entwickelte er in Auseinandersetzung mit dem Kunsttheoretiker Otakar Hostinský, der Schillers Drama für Fibichs Oper übersetzte und bearbeitete, einen eigenen deklamatorischen Vokalstil, den man als hochmelodiöse Rezitativik bezeichnen könnte und die Figuren und Situationen durch Leitmotive psychologisch ausdeutet. Schon Schiller ließ in seinem „Trauerspiel mit Chören” den Chor in Anlehnung an die antiken Vorbilder eine aktive und prominente Rolle einnehmen, darüber hinaus schafft Fibich in der Opernfassung mit den Chornummern musikalisch glanzvolle, liedartige oder ariose Tableaus und Momente höchster Intensität. Die Braut von Messina, im deutschsprachigen Raum bisher nicht aufgeführt, interessiert aber nicht nur wegen ihrer originellen Konzeption, sondern ist auch ein dramatisch wirkungsvolles, musikalisch äußerst faszinierendes Werk, das es allerdings in Prag nach der Uraufführung schwer hatte, weil es als zu wagnerianisch und düster abgetan wurde.
Gleiche Meisterschaft zeigt Der Sturm, für dessen Textbuch Jaroslav Vrchlický Shakespeares Schauspiel sinnvoll straffte und einen Akzent auf das junge Liebespaar Fernando und Miranda legte. Alle Opern wurden im deutschen Sprachraum kaum oder gar nicht wahrgenommen. Bis auf wenige Ausnahmen: Das Theater Bielefeld brachte 2007 eine viel beachtete Produktion von Der Sturm heraus, schon 1998 dirigierte Sylvain Cambreling in Wien eine konzertante Aufführung von Šárka, die auch auf CD erschien, Die Braut von Messina wurde bislang im deutschsprachigen Raum nicht aufgeführt, ebensowenig die übrigen vier erhaltenen Opern.
Marie Luise Maintz
(aus takte 1/2008)
Photo oben: „Der Sturm” am Theater Bielefeld, Premiere: 31.3.2007