Bruckners „Romantische“ Symphonie ist eines seiner bekanntesten Werke. Die neue kritische Ausgabe bezieht erstmals alle erhaltenen handschriftlichen Quellen und rekonstruiert die Fassung der Erstaufführung 1881.
Bruckners IV. Symphonie ist seit langer Zeit eines seiner populärsten Werke. Obwohl sie fast jedem Musikliebhaber bekannt ist, blieben wichtige Aspekte ihrer Geschichte und ihres musikalischen Textes über Jahrzehnte ziemlich mysteriös. Das könnte sich jetzt ändern: Die neue kritische Ausgabe der zweiten Fassung der Symphonie ist die erste, die auf einer intensiven, vergleichenden Untersuchung aller erhaltenen handschriftlichen Quellen basiert, einschließlich der Partitur und Orchesterstimmen der Erstaufführung der Wiener Philharmoniker unter Hans Richter am 20. Februar 1881. Daher unterscheidet sich diese Ausgabe in wichtigen Punkten von den bisher vorhandenen dieser Fassung durch Robert Haas bzw. Leopold Nowak.
Die neue Ausgabe stellt jene Fassung der Symphonie dar, in der sie bei ihrer Erstaufführung 1881 gespielt wurde. Der musikalische Text enthält daher einige Änderungen, die während der Proben gemacht und vom Komponisten eindeutig als Verbesserungen angesehen worden waren. Bruckners späte Ergänzungen zur Instrumentierung einiger Passagen im Jahr 1886 sind jedoch nicht in den Haupttext eingebaut. Natürlich korrigiert die neue Ausgabe auch einige falsche Noten bzw. missdeutete Notationen, wie sie in älteren Partituren stehen.
Im Gegensatz zur Haas-Ausgabe enthält die Neuausgabe die musikalisch wichtigen Taktwechsel im Finale, wie sie erstmals bei der Aufführung 1881 verwendet wurden. Außerdem erklärt und verdeutlicht sie Bruckners beabsichtigtes Temposchema, das in den beiden vorhergehenden Ausgaben nicht klar dargestellt ist. Folglich wird die neue Ausgabe dazu beitragen, dass künftige Aufführungen die miteinander verbundenen Tempi realisieren, die diese außergewöhnlich komplexe musikalische Struktur gliedern und für ihre volle Wirkung unerlässlich sind.
Der Editionsbericht der Ausgabe erörtert detaillierter und genauer denn je zuvor Bruckners Kompositions- und Revisionsprozess dieser Fassung seit ihrem Entstehen 1877 über die Erstaufführung von 1881 und die letztmaligen Änderungen von 1886. Erstmals wird vor allem die komplexe Abfolge an Revisionen erklärt, die Bruckner am Ende der Durchführung und zu Beginn der Reprise des Finales vor und nach der Erstaufführung vornahm. Der Anhang der Ausgabe enthält die Variante dieser Passage, wie Bruckner sie in den Jahren 1880 und 1881 versuchte. Ebenso sind eine aus dem Andante gestrichene Stelle sowie alle Änderungen Bruckners von 1886 im Anhang abgedruckt. Die frühen Lesarten mehrerer Passagen, die der Komponist 1881 revidiert hatte, werden ebenfalls im Editionsbericht beschrieben.
Aus all diesen Gründen ist diese neue kritische Ausgabe bislang sicher die klarste und umfassendste Darstellung des Notentextes und der Kompositionsgeschichte der meist gespielten Fassung dieser beliebten, aber teils immer noch missverstandenen Symphonie.
Benjamin Korstvedt
(aus [t]akte 1/2018)