Ein „neues” Klavierkonzert von Felix Mendelssohn! Aus den vorhandenen Skizzen hat Larry Todd das in den Jahren zwischen 1842 und 1844 entworfene Konzert in e-Moll rekonstruiert und ergänzt.
Mendelssohn erwog ernsthaft zwischen März 1842 und März 1844, ein Klavierkonzert zu schreiben, das genau wie Opus 64 aus drei zusammenhängenden Sätzen bestehen sollte und für das er außerdem ebenfalls die Tonart e-Moll gewählt hatte. Die Anregung für diese Komposition könnte von Edward Buxton stammen, der für den englischen Verlag J. J. Ewer & Co. tätig war. Mendelssohn erwähnt in einem Brief an Buxton vom 5. März 1842 explizit den Gedanken an ein „drittes [Klavier-]Konzert” und fährt fort: „ich plane einen Englandbesuch in diesem Frühjahr und beabsichtige, ein paar Wochen in London zu verbringen, um einige neue Kompositionen zu veröffentlichen, die ich geschrieben habe; ich hoffe, bis dahin ein Konzert zu vollenden, und würde es natürlich zuerst Ihnen anbieten, sollte dies der Fall sein” (Brief Mendelssohns an Buxton vom 5. März 1842).
Wie wir wissen, wurde aus dieser Idee zu diesem Zeitpunkt nichts; zwei Jahre später jedoch, als er seine achte Englandreise plante, schrieb Mendelssohn an seinen Leipziger Verleger Breitkopf & Härtel, „ein Clavier-Concert denke ich bis dahin [Mitte April] zu beendigen, und dann möchte ich Sie wohl bitten es abermals in die Welt zu lootsen!“ (Brief Mendelssohns an Breitkopf & Härtel vom 5. März 1844).
Obwohl Mendelssohn sein „drittes” Klavierkonzert für England niemals beendete, hinterließ er einen ausgedehnten Entwurf für die ersten beiden Sätze und war sich seiner Sache sicher genug, um bereits mehrere Seiten einer Orchesterpartitur des ersten Satzes niederzuschreiben. Diese Quellen sind in der Bodleian Library in Oxford erhalten. Im vorliegenden Zusammenhang ist für uns die Tatsache von Bedeutung, dass das Klavierkonzert mit dem Violinkonzert in e-Moll nicht nur die Tonart, sondern auch ein gewisses Maß an thematischem Material gemein hat. Besonders auffällig sind die offensichtlichen Parallelen zwischen dem zweiten Thema des ersten Satzes und dem bekannten zweiten Thema von Opus 64, wo die Bläser die Melodie in G-Dur einführen, während die Solovioline darunter auf der G-Saite einen ausgehaltenen Orgelpunkt spielt. Das G-Dur-Thema für das Klavierkonzert, das über einem Tremolo im Bass erscheint, gleicht einem frühen Entwurf für sein Schwesterthema in Opus 64. In ähnlicher Weise deutet die abgerissene Bewegung des zu Beginn des Klavierkonzerts stehenden e-Moll-Themas, das – bereichert durch den Leitton dis – die absteigende Quarte e-h durchschreitet, auf das Orchestertutti voraus, mit dem der erste Satz von Opus 64 endet.
Der fragmentarische Entwurf des dritten Klavierkonzerts erweist sich als ein eindrucksvolles Bindeglied zwischen dem ursprünglichen Entwurf des Violinkonzerts, der Mendelssohn im Juli 1838 keine Ruhe gelassen hatte, und der im September 1844 vollendeten Partitur. Er verwendete also einige im Zusammenhang mit dem Violinkonzert entstandene Einfälle, als er die Arbeit am Klavierkonzert aufnahm; und als er dieses Projekt aufgegeben hatte, tauchte das Material schließlich in Opus 64 auf.
Der bekannte Mendelssohn-Forscher R. Larry Todd (Duke University) legt für seine Edition Mendelssohns Autograph-Particell (Oxford) und eine bei Henschke für N. Gade angefertigte Abschrift (Yale University) zugrunde. Mendelssohns Particell hat Todd bis zum Ende des zweiten Satzes orchestriert (Mendelssohns Particell beinhaltet Instrumentenangaben) und Todd fügte als dritten Satz eine Umarbeitung für Klavier der Solostimme aus Opus 64 hinzu.
Douglas Woodfull-Harris
aus: takte 2/2008
e-Moll – Felix Mendelssohns drittes Klavierkonzert
Felix Mendelssohn Bartholdy
Konzert in e Nr. 3 für Klavier und Orchester. Rekonstruiert und vervollständigt von R. Larry Todd
Bärenreiter-Verlag 2008. Partitur käuflich, Aufführungsmaterial leihweise
Erste Aufführung: 10.1.2009 Bad Kissingen (Festival Winterzauber), Matthias Kirschnereit (Klavier), Staatskapelle Weimar, Leitung: George Pehlivanian(auch 11.1.2009, Garmisch-Partenkirchen)
US-Premiere: 18.3.2009 New York, Tatiana Goncharova (Klavier), Lyric Chamber Ensemble