Beim Festival Ultraschall 2017 erlebt Heinz Winbecks Fünfte Sinfonie. Jetzt und in der Stunde des Todes ihre deutsche Erstaufführung durch das Deutsche Symphonie-Orchester unter Dennis Russell Davies. Die Sinfonie ist ein großartiger Versuch über Bruckner, anknüpfend an dessen 9. Sinfonie. Zur Uraufführung 2011 formulierte der Komponist, der am 11. Februar seinen 70. Geburtstag feierte, eine Einführung.
Während ich dem Hörer erklären will, auf welche Art von Musik er sich einstellen möge, wird mir bewusst, dass keine Kategorie und Begrifflichkeit, nicht einmal die so unverfängliche Fragmentbezeichnung wirklich zutrifft. Hilft der Umweg über die Negation?
Es handelt sich also nicht um einen weiteren Versuch, mit dem von Anton Bruckner hinterlassenen Material den Finalsatz „fertigzukomponieren“, ebenso wenig um eine neutrale musikwissenschaftliche Studie auf der Basis dieses Materials, noch weniger um eine Transposition in unsere Gegenwart, geleitet von der Frage, was uns Väterchen Bruckner heute zu sagen hätte. Ja, was denn dann?
Nach mehrjähriger Beschäftigung mit der Thematik verdichtete sich in mir die Wahrnehmung, wie sich ein Komponist fühlt, der mit der Last dieser „unfertigen“ 9. Sinfonie dem Tod entgegengeht und merkt, wie die letzten Einfälle und Visionen eine äußerste Zuspitzung erfahren und zugleich entgleiten, wie Einbrüche entstehen, wo vorher begehbares Land war, wie selbst die vertrauten und verehrten Vorbilder, deren großartige Gipfel man wenigstens von Ferne grüßen wollte, plötzlich zu dämonischen Autoritäten werden und man allein steht mit seinem Glauben auf schwankendem Boden.
Satz I („Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden …“) vollzieht in einer zunächst sehr stillen, vortastend suchenden Weise den Aufbruch zum Abschied.
Satz II („Komm, heiliger Geist und entzünde …“) legt mit Choral, Fuge und Hauptthema die letzte große und vergebliche Kraftanstrengung fieberhaft taumelnd bloß.
Satz III („Jetzt und in der Stunde des Todes“) zeigt die allmähliche Auflösung der Zeit nach dem Durchgang durch aufsteigende Erinnerungen aus dem eigenen sinfonischen Lebenswerk, gerufen von Motiven der ach so verehrten wagnerschen Götterdämmerung, einmündend in eine „Hallelujah-Vision“.
Der Kenner wird merken, dass ich zwar permanent „Brucknersches“ bearbeite, aber so gut wie nie Bruckner im Originalklang zitiere – nur 4 von 1327 Takten – und auch weitestgehend eine Nachahmung des brucknerschen Orchesterklangs vermeide. Damit stellt sich die Frage nach meinem Anteil. Auch hier kann ich nur sagen, was mir selbst als Paradoxon erscheint: Ich habe mich via Studium und Einfühlung Anton Bruckner zwar völlig untergeordnet, und es ist gewiss keine „moderne“ Musik dabei herausgekommen, aber es ist absolut und ganz und gar mein Stück und meine Gratwanderung. Gerne lege ich es in die Hände von Anton Bruckner, der am besten verstehen wird, dass ich aus Respekt vor seiner einmaligen Individualität und seinem Genie den Finalsatz unvollendet ließ.
Heinz Winbeck
(aus [t]akte 2/2016)