Die viel gespielten Orchesterwerke Claude Debussys brauchen einen verlässlichen Urtext, der auch Aufführungstraditionen miteinbezieht. Die Ausgaben von Douglas Woodfull-Harris bei Bärenreiter lösen dies ein.
Wenn man Claude Debussys La Mer in den legendären Aufnahmen von Celibidache, de Sabata, Monteux, Münch, Cluytens, Ansermet, Mitropoulos, Pedrotti oder auch Karajan hört, so fällt stets eine Passage kurz vor Ende des letzten Satzes Takte 237–244 auf, worin die Trompeten und Hörner eine prominente chromatische Gegenstimme spielen, die an die vorhergehenden Takte anknüpft, und die in allen erhältlichen Partiturausgaben fehlte. Wer dem nachging, konnte herausfinden, dass sich diese Stimme nur im Erstdruck fand und in den folgenden Ausgaben gestrichen wurde. Ernest Ansermet hielt diese Streichung für einen Fehler und vermutete ein Missverständnis, und Celibidache beispielsweise sah diesen Fall als editorische Schlamperei. Ich vermute, dass Debussy die Wirkung zu massiv war – Molinari ließ sie damals vom dritten Horn alleine ausführen –, doch natürlich wird bei zurückhaltenderer Dynamik die Hauptstimme nicht zwangsläufig zugedeckt. Wie man es auch dreht und wendet, Debussy hat zwar der Änderung zugestimmt, doch nur dogmatische Textausleger können nicht erkennen, dass die Passage in der ursprünglichen Fassung nicht nur wirkungsvoller ist, sondern auch kohärenter zum Ganzen beiträgt. Im Bärenreiter Urtext hat nun Herausgeber Douglas Woodfull-Harris erstmals diese Passage wieder in den Partiturtext hineingenommen (anstatt sie in den Kritischen Bericht zu verbannen), und, um die zwiespältige Quellenlage zu kennzeichnen und dem Dirigenten die Wahl zu lassen, die restaurierte Stimme in eckige Klammern gesetzt. Abgesehen von der akribischen Durcharbeitung der Quellen im Allgemeinen, die auch in anderen Neueditionen dieses Hauptwerks von Debussy zu konstatieren ist, ist dies das entscheidende Argument, hier als Dirigent aus dem Bärenreiter Urtext spielen zu lassen; die Unterschiede sind ja bei so häufig untersuchten und als kritische Neudrucke aufgelegten Werken selten von so schlagender Offensichtlichkeit, sondern liegen meist in fein abwägenden Entscheidungen, die widerspruchsfrei das Interesse an einem unverfälschten, philologisch möglichst einwandfreien Urtext mit den Anforderungen musikalischer Aufführungspraxis in Einklang bringen sollen.
Bärenreiters Debussy-Urtext-Edition schreitet kontinuierlich voran: an Klavier-Solowerken sind die frühen Arabesques, die Suite bergamasque, Pour le piano, die beiden Bände der Images, Children’s Corner und der erste Band der Préludes erschienen, dazu kommen in kleiner Besetzung sein Streichquartett, Syrinx für Flöte solo und die Sonate für Cello und Klavier. Das natürlich komplizierter zu durchforstende Orchesterschaffen ist bisher mit den sehr verdienstvollen Neuausgaben von Prélude à l’après-midi d’un faune und La Mer vertreten, und nun ist die Rhapsodie für Orchester mit Solo-Klarinette neu hinzugekommen. Im Editionsprozess befindet sich mit den Images ein weiteres Schlüsselwerk seiner Orchestermusik, das uns sicher noch spannende Diskussionspunkte und womöglich auch Entdeckungen bieten wird, und es wird sehr interessant, wenn dann ein teils in so mangelhaften Ausgaben existierendes Werk wie die Nocturnes im neuen Urtext vorliegt.
Die Klarinetten-Rhapsodie schließt sich in der freien Formung an das Prélude à l’après-midi d’un faune an und hat es verdient, im Konzertleben präsenter zu sein als bisher. Sie wurde 1909 als Concours-Stück für Klarinette und Klavier für das Pariser Conservatoire komponiert, 1910 der ursprünglichen Absicht entsprechend orchestriert, und trägt die nachträglich irreführende Bezeichnung „Première Rhapsodie", was nicht nur im Widerspruch zur zuvor komponierten Saxophon-Rhapsodie steht, deren Orchestration nie fertiggestellt wurde, sondern auch den irrtümlichen Eindruck erwecken kann, Debussy habe vorgehabt, eine weitere Rhapsodie für die Klarinette zu schreiben. Vielmehr ist es so, dass Debussy mehrfach größere Werkzyklen plante, die er nicht realisierte (bereits sein einziges Streichquartett hatte er 1893 als „Premier quatuor" veröffentlichen lassen). 1909 plante Debussy einen Zyklus von Rhapsodien für sämtliche Hauptinstrumente der Holzbläsergruppe, also für Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott, von der jedoch nur das Werk für Klarinette zur Ausführung gelangte.
Mit der Cellosonate von 1915 verhält es sich ähnlich wie mit der Rhapsodie: Hier plante Debussy in seinen späten Jahren einen Zyklus von sechs Sonaten, die einer auf den Barock sich zurückbesinnenden, neuen französischen Klassizität huldigen sollten. Nach Vollendung der Cellosonate stellte er, allerdings in veränderter Besetzung, zwei weitere Sonaten fertig (für Flöte, Bratsche und Harfe, und für Violine und Klavier), doch die drei weiteren (für Oboe, Horn und Cembalo; für Trompete, Klarinette, Fagott und Klavier; sowie in einer Kammerkonzertbesetzung) hat er nicht einmal mehr skizziert.
In allen Ausgaben der Debussy-Edition bei Bärenreiter sind in den umfangreichen Vorworten den aufführungspraktischen Aspekt detailliert betrachtende Erörterungen enthalten. Dies ist im Falle Debussys gar nicht so einfach, denn die Freiheiten, die er gewährte, sind beträchtlich, und vor allem setzte er, der so herrlich unprätentiös selbsternannte „Musicien français“, auf das intuitive Einfühlungsvermögen der Musiker. Douglas Woodfull-Harris sagt dazu: „Jedes Werk von Debussy hat eine andere Geschichte und jenseits des Notentexts gibt es eine Welt autorisierter Interpreten, die seine Musik mit ihm kennenlernten und erarbeiteten, mit ihm und für ihn aufführten. Eine moderne textkritische Ausgabe muss auch diese Quellen einbeziehen, um das Werk im Einzelnen und als Ganzes zu verstehen.“ Mit den meisten Aufführungen war Debussy nicht glücklich, und wir wissen, dass seine Musik mit einem fortwährenden natürlichen Rubato verbunden war, das sich der genauen Notation entzieht. Als ihn George Copeland fragte, weshalb so wenige Musiker seine Musik spielen könnten, antwortete Debussy: „Ich denke, weil sie versuchen, sich der Musik aufzudrängen. Es ist aber notwendig, sich selbst völlig aufzugeben und die Musik mit einem machen zu lassen, was sie will – als sei man ein Gefäß, durch das sie hindurchgeht.“
Kein Neuerer in der Musikgeschichte, nicht einmal seine Zeitgenossen Strauss, Sibelius oder Mahler, hat einen so umfassenden Einfluss auf das Kommende genommen wie Debussy. Ravel, Strawinsky und Bartók, sogar Varèse und Ives sind in vielen Aspekten ohne seine bahnbrechenden Entdeckungen undenkbar. Doch er verfuhr stets vollkommen frei und unsystematisch, was den Aufbau seiner Stücke betrifft. Er pflegte in seiner Überwindung alles Akademischen zu sagen: „Es ist Musik, keine Architektur.“ Ob er die Ganztonleiter und die damit verbundene, vagierende Welt des Enharmonischen in ihren korrelativen Potentialen ausschöpfte, ob er die Diatonik mit der Eroberung des großen Sekundintervalls als Konsonanz oder leuchtenden Quint- und puren Quartparallelfolgen bereicherte, die Chromatik als melismatisch freies Espressivo-Element integrierte, anstatt sich in ihrer verdichtenden Nivellierung zu verlieren, stets war er als hellwacher Schöpfer aus dem Moment in der Lage, mit einer wie improvisiert scheinenden Freiheit einen unvorhersehbaren Zusammenhang herzustellen, der wie ein geträumter Widerhall der irregulären Gesetzmäßigkeiten der Natur erscheint. Die 1874 von Monets Bild „Impression: Aufgehende Sonne" angeregte, von Louis Leroy kreierte Bezeichnung „Impressionist“ lehnte er ab, wie er auch nicht das Haupt einer Schule des „Debussysmus“ sein wollte: „Impressionismus, ein Ausdruck, der so unpassend wie möglich angewendet wird und den die Kunstkritiker einem William Turner anzuhängen suchen, dem größten Schöpfer des Geheimnisses, das es in der Kunst gibt …“ Freilich ist Debussys Musik in ihrer sich aller konkreten Fesseln entledigenden Beweglichkeit impressionistisch, wenn man darunter wie Celibidache den „schnellen, zwanglosen, fließenden Wechsel der Farben“ versteht, wobei man zugleich verstehen muss, dass hier von der reizvollen Oberflächenwirkung die Rede ist, die uns allzu leicht den sich im Hintergrund vollkommen unorthodox aufspannenden harmonischen Zusammenhang, die so wunderbar spontan wirkende organische Formung des Ganzen übersehen lässt. Woodfull-Harris sagt, dass Debussy ihn „einlädt, an seinem schöpferischen Prozess teilzunehmen; er bittet mich geradezu, nicht nur die schwarzen Noten- und die Pausenwerte zu überprüfen, sondern alles, was um sie herumschwirrt: die Wolken, den Wind, das Meer, den Großstadtlärm, die Poesie“.
Christoph Schlüren
(aus [t]akte 2/2017)