Barry Cooper bietet in der neuen Bärenreiter-Ausgabe alternative Lesarten an, korrigiert Ungenauigkeiten und fügt eine wiederentdeckte Komposition aus dem engen Zusammenhang der Messe mit an.
1819 stimmte Beethoven zu, eine prunkvoll angelegte Messe für die feierliche Einsetzung seines Schutzpatrons und Schülers Erzherzog Rudolph als Erzbischof von Olmütz zu komponieren. Die Zeremonie sollte am
9. März 1820 stattfinden, doch unglücklicherweise wurde Beethoven mit seinem Werk nicht rechtzeitig fertig. Er entschied sich trotzdem weiterzukomponieren, bis er schließlich im März 1823 die Partitur dem Erzherzog überreichen konnte. Später beschrieb Beethoven die Messe als „mein gröstes werk“ und verkaufte bereits vor der Veröffentlichung Kopien des Manuskripts an einige seiner Subskribenten. Eine Kopie, versandt an den Prinzen Galitzin, wurde als Material für die erste vollständige Aufführung in St. Petersburg im April 1824 verwendet. Im darauffolgenden Monat führte Beethoven selbst drei einzelne Sätze der Messe in Wien auf, dirigierte sie selbst aber nie vollständig. Sie ist selten im liturgischen Kontext zu hören, und ihr Anspruch fordert auch noch heute die Chöre heraus.
Es wurden bereits zahlreiche Editionen dieses Werkes veröffentlicht, besonders hervorzuheben ist die von Norbert Gertsch für die Beethoven-Gesamtausgabe (VIII, 3, München, 2000). Sie beschreibt detailliert jede Quelle und listet nahezu alle signifikanten Unterschiede auf. Die neue Bärenreiter-Ausgabe unterscheidet sich von ihr und anderen Editionen in mehreren Punkten, von denen die folgenden besonders erwähnenswert sind:
1. In der Messe gibt es mehrere Stellen, bei denen eine andere Lesart nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich ist, und ich habe viele neue Interpretationen von Beethovens Absichten in diese neue Edition eingefügt. Besonders auffällig ist dies, wenn der Chor bereits im Sanctus statt der Solisten einsetzt und nicht erst im „Pleni sunt coeli“. Ebenso erwähnenswert ist die Einbeziehung der Solisten zusätzlich zum Chor im überwiegenden Teil des Credos.
2. Mehrere Ungenauigkeiten aus anderen Ausgaben wurden korrigiert. Zum Beispiel die zweite Note im Sopran in Takt 503 des Glorias, welche ein E und kein F sein sollte. Eine Liste ähnlich wichtiger Korrekturen ist dem Kritischen Bericht beigefügt.
3. Es werden umfassende Hinweise zu Aufführungsproblemen gegeben, besonders wenn diese durch Mehrdeutigkeiten in der Notation entstehen; diese reichen von der Erklärung der Verzierungszeichen bis hin zur Größe der Besetzung, die sich Beethoven vorgestellt hatte.
4. Der Anhang enthält Beethovens Bearbeitung des gregorianischen Hymnus „Tantum ergo“, die er zur gleichen Zeit wie die „Missa solemnis“ schrieb und die wahrscheinlich ebenso für die feierliche Zeremonie gedacht war. Die Komposition wurde erst vor Kurzem in diesem Zusammenhang identifiziert. Beide Werke wurden zuvor noch nie zusammen veröffentlicht.
Die Edition erfüllt alle wissenschaftlichen Anforderungen an eine Urtext-Edition. Zum ersten Mal enthält sie ein Stemma, welches die komplexen Beziehungen zwischen den verschiedenen Quellen verdeutlicht. Sie richtet sich an diejenigen, die eine Kombination aus zuverlässigem Text und fundierten editorischen Hinweisen für eine gelungene Interpretation des Werks suchen.
Barry Cooper
(aus [t]akte 2/2018 – Übersetzung: Johanna Friedrichs)