Mozarts c-Moll-Messe zählt zu den bedeutendsten Meisterwerken. Doch sie blieb Fragment. Die neue Rekonstruktion von Ulrich Leisinger nähert sich der Messe weitestmöglich
Kaum ein Werk von Wolfgang Amadé Mozart übt noch heute auf Kenner wie Liebhaber eine so große Faszination aus wie die sogenannte c-Moll-Messe KV 427. Sie verdient nicht nur wegen ihrer Monumentalität und musikalischen Schönheit Bewunderung, sondern wird immer mit der Aura des Unvollendeten und Mysteriösen behaftet bleiben. Ungeklärt sind bis heute die genauen Umstände der Entstehung als eine Votivmesse, die Gründe für den Abbruch der Komposition sowie viele Details zur Erstaufführung, die nach gegenwärtigem Kenntnisstand am 26. Oktober 1783 in St. Peter in Salzburg stattgefunden hat. Dabei ist die Messe zugleich ein berührendes Zeugnis für Mozarts Liebe zu Constanze Weber, die er gegen den Wunsch seines Vaters geheiratet hatte und für die er, wenn wir einen Eintrag im Tagebuch seiner Schwester Maria Anna, genannt Nannerl, richtig deuten, die Sopransoli geschrieben hat. Bemerkenswert ist, dass die Messe, obwohl sie ein Torso geblieben ist, überhaupt bei Mozarts letztem Besuch in Salzburg aufgeführt werden konnte. Bei der c-Moll-Messe haben wir es gleich auf mehreren Ebenen mit einem Fragment zu tun: Mozart hat nicht alle Teile des Ordinarium missae vertont: Es fehlen große Teile des Credo und das ganze Agnus Dei. Zudem sind Teile von Mozarts Originalhandschrift frühzeitig verloren gegangen.
Die jüngere Mozart-Forschung hat sich immer wieder mit der c-Moll-Messe beschäftigt und dabei bemerkenswerte Neuerkenntnisse erzielt: Wolfgang Amadé Mozart hatte offenbar zum Zeitpunkt der Komposition über Gottfried van Swieten Zugang zur h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, die für ihn eine wichtige kompositorische Anregung war. Nur eine einzige frühe Quelle enthält die bei der Erstaufführung erklungenen Sätze Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus. Diese Partiturabschrift von Pater Matthäus Fischer geht zwar auf die Salzburger Originalstimmen zurück, die nach dem Tod Leopold Mozarts an das Stift Heilig Kreuz zu Augsburg gelangt waren. Sie ist aber eine Bearbeitung, mit der Fischer für eine Augsburger Aufführung unter seiner Leitung um 1800 den ursprünglich bis zu achtstimmigen Vokalstimmensatz für vierstimmigen Chorsatz eingerichtet hat.
Diese Erkenntnisse haben wichtige Konsequenzen für ein Verständnis der von Mozart intendierten Klanggestalt, die nur für die Sätze Kyrie und Gloria durch Mozarts vollständiges Autograph eindeutig feststeht. Vor mittlerweile 45 Jahren wurde in der „Neuen Mozart-Ausgabe“ eine Edition der Messe getreu nach den Quellen erstellt, die auf eine Rekonstruktion, wie sie für eine Aufführung erforderlich wäre, bewusst verzichtet hat. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Mozarteum Salzburg wird nun eine Neuausgabe vorgelegt, die den aktuellen Forschungsstand und – anders als dies eine wissenschaftliche Gesamtausgabe kann – auch die Bedürfnisse der Praxis berücksichtigt.
Bei Sanctus (mit „Hosanna“) und Benedictus ist Mozarts Partitur der Singstimmen (Doppelchor) und Streicher verlorengegangen; hier gilt es, durch genauen Vergleich, den vierstimmigen Chorsatz, wie er in Fischers Bearbeitung überliefert ist, wieder auf zwei Chöre zu verteilen und die scheinbar fehlenden Chorstimmen unter Rückgriff auf die Instrumentalstimmen zu rekonstruieren. Von besonderer Bedeutung für die Rekonstruktion ist die Beobachtung, dass in den wenigen Salzburger Kirchenkompositionen des 18. Jahrhunderts für Doppelchor (darunter Mozarts Offertorium „Venite populi“ KV 260) die drei Posaunen stets mit den Vokalstimmen des ersten Chores geführt werden.
Für die ersten beiden Teilsätze des Credo hat Mozart einen vollständigen Partiturentwurf angefertigt, der alle Vokalstimmen, den instrumentalen Bass und die wichtigsten Instrumentalstimmen enthält. Es versteht sich dabei von selbst, dass Mozart am Beginn des Credo Trompeten und Pauken vorgesehen hatte. Für eine dezente, stilgerechte Ergänzung der Streicherbegleitung in der Sopranarie „Et incarnatus est“ bietet – wie seit langem bekannt ist – vor allem die Arie „Deh vieni non tardar“ aus „Le nozze di Figaro“ sichere Anhaltspunkte.
Ulrich Leisinger
(aus [t]akte 2/2018]