Um Musik früherer Jahrhunderte authentisch zu spielen, muss man die Ausführungskonventionen der Entstehungszeit kennen. Ein sensationeller Fund revidiert unsere Sicht auf Mendelssohns Violinkonzert.
Mendelssohns Violinkonzert fand bei seinen Zeitgenossen begeisterte Aufnahme und wurde bald und bis heute zu einem der meistgespielten Violinkonzerte überhaupt. Die Aufführungsgewohnheiten haben sich über die Jahre allerdings stark gewandelt. Bis zum Tode Joseph Joachims 1907 bestand eine Aufführungstradition, die in der direkten Verbindung mit dem Komponisten wurzelte. Im 20. Jahrhundert dagegen gerieten viele Aspekte der Aufführungsweise, wie sie der Welt Mendelssohns, Schumanns, Brahms’ oder ihrer Zeitgenossen angehörten, in Vergessenheit oder wurden abgelehnt, jeweils als Folge solch disparater Erscheinungen wie „Moderne“, dem Einfluss von Tonaufnahmen, der Entwicklung einer „modern-barocken“ Aufführungsweise und vieler anderer Faktoren, die stilistischen Wandel nach sich zogen. Die heute übliche Art, das Konzert zu interpretieren, hätte bei Mendelssohn und den ersten Solisten des Werks, Ferdinand David, Hubert Léonard und Joseph Joachim, zweifellos Erstaunen, Verwirrung und möglicherweise Erschrecken ausgelöst. Viele Spielpraktiken, die ihnen für eine werkgetreue Umsetzung des Notentextes als unerlässlich galten, spielen in gegenwärtigen Interpretationen nur eine geringe oder gar keine Rolle.
Ein Spieler macht es sich zu leicht, wenn er davon ausgeht, dass die Notationsweise des 19. Jahrhunderts uns heute mehr oder weniger dasselbe vermittelte wie Mendelssohn und seinen Zeitgenossen, nur weil sie uns so vertraut vorkommt. Doch so gut wie nichts verbindet Musiker, die ihre Ausbildung von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an erhalten haben, mit den Musiziergewohnheiten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu den Kernwahrheiten der uns vertrauten Ästhetik zählt die Annahme, dass die Ehrfurcht vor den Absichten des Komponisten uns auf den Notentext verpflichtet, so wie er dasteht, ohne etwas daran zu ändern oder gar hinzuzufügen. Im Licht historischer Zeugnisse jedoch wurde es immer klarer, dass zwischen der Notation der Musik von Komponisten des 19. Jahrhunderts und deren Erwartungen an die Ausführung durch einen erfahrenen Musiker ein erheblicher Unterschied bestand. Will man also den vom Komponisten niedergelegten Text respektieren, so darf man ihn gerade nicht für bare Münze nehmen; ja man vergeht sich an den Absichten des Komponisten, wenn man es tut.
Wenn uns die Absichten des Komponisten wirklich am Herzen liegen, so müssen wir die Musizierpraktiken wiederentdecken, die einst im Mittelpunkt schönen Musizierens standen; die mit der Notation zusammenhingen, doch allein „zwischen den Zeilen“ zu lesen waren, wie Joseph Joachim es formulierte. Zu diesem Zweck können wir auf eine Fülle von Lehrwerken und anderen Dokumenten zurückgreifen, besonders auf die Einzeichnungen und Anmerkungen bedeutender Geiger des 19. Jahrhunderts in gedruckten oder handschriftlichen Quellen. Im Fall des Mendelssohn-Violinkonzerts besitzen wir mit Bogenstrichen und Fingersätzen versehene Ausgaben von den wichtigsten Musikern ihrer Zeit, unter anderem von Ferdinand David und Joseph Joachim. Kürzlich erst kam ein Korrekturabzug der Solostimme dazu, die in der Bibliothek des Königlichen Konservatoriums von Brüssel entdeckt wurde. Darin hatte Hubert Léonard sehr detaillierte Einzeichnungen gemacht, bevor er das Stück mit dem Komponisten am Klavier spielte. Diese drei Quellen dokumentieren gemeinsam eine ähnliche Aufführungsweise, wie sie auch andere frühe Ausgaben des Werks widerspiegeln.
Die richtige Deutung des Inhalts solcher früher praktischer Ausgaben erfordert die eingehende Kenntnis der Fingersatz- und Bogenpraxis der Zeit, aus der sie hervorgingen. Deshalb habe ich in einem Begleitheft zur Ausgabe Informationen zur Bedeutung der historischen Bezeichnungen und zu den Spielweisen zusammengefasst, die Mendelssohn vertraut waren; die Solostimme enthält Bogenstriche und Fingersätze, die der Spielpraxis der ersten Interpreten des Werks entsprechen. Zur Ausgabe gehört außerdem ein ausführlicher Kommentar mit sämtlichen mir erreichbaren, spezifischen historischen Informationen zur Aufführungspraxis des Violinkonzerts während der ersten sechzig Jahre nach dessen Komposition.
Clive Brown
(aus [t]akte 1/2018)