Die steile Karriere von Philippe Boesmans als Opernkomponist nahm im Jahr 1993 mit Reigen ihren Anfang. Momentan arbeitet er an einer Oper nach Georges Feydeaus Stück On purge bébé, nachdem sein jüngstes Werk, Fin de nuit für Klavier und Orchester, am 28. Februar in Lüttich zur Uraufführung gekommen ist.
In der wallonischen Wirtschaftsmetropole liegt auch der Ursprung von Boesmans‘ Laufbahn. Dort absolvierte er in den 1950er Jahren sein Klavierstudium, bevor er zu Beginn des folgenden Jahrzehnts mit dem Komponieren anfing. Bei der Herausbildung seines künstlerischen Ansatzes hatten Interpreten wie Walter Boeyckens, Francette Bartholomée, Claude Lombard, Hubert Biébaut, Bernard Foccroulle, Jacqueline Méfano, Fabrizzio Cassol und Ensembles wie „Musique nouvelle“ oder „2e2m“ einen entscheidenden Anteil. Die Instrumentierung von Boesmans wird durch das Konzept der „Klangfarbenmelodie“ bestimmt. Er verfeinert außerdem unentwegt die ihm eigene Technik des „Trompe l’oreille“, die darin besteht, Klangfarben auf eine bestimmte Art zu vermischen und so ihre Wahrnehmung zu stören, z. B. indem eine solistische Stimme mit einer Gruppe von Instrumenten verflochten wird. So tritt die Klarinette in Corrélations (1967–70) in Dialog mit zwei Ensembles, desgleichen die Harfe in Explosives (1968) sowie Horn und Singstimme in Upon la-mi (1970) und die Orgel in Gloses (1974) und Ring (1975).
Sein spezielles Interesse für das Orchester besteht seit 1969: Verticales inspiriert ihn für das dreiteilige Werk Intervalles (1972–76) und legt die Grundlage für Conversions (1980). In Multiples für zwei Klaviere und großes Orchester (1974) erfährt seine mit Sur mi (1973) etablierte Konzeption des Zusammenspiels der beiden Klaviere eine Weiterentwicklung: Höchste Virtuosität wird kombiniert mit Echoeffekten und aufblitzenden musikalischen Glanzlichtern, die abwechselnd bei den Solisten und im Orchester zu hören sind. Élément-extensions für Klavier und Instrumentalensemble (1976) interpretiert die Form „Thema und Variation“ neu und gibt der pianistischen Virtuosität wieder viel Raum. 1978 schreibt Boesmans sein erstes Klavierkonzert; es stellt in Bezug auf die instrumentale Wucht und den Klang eine Fortsetzung von Sur mi und Multiples dar und wird vom Komponisten noch im Entstehungsjahr für Soloklavier bearbeitet (Cadenza). Das Violinkonzert aus dem Jahr 1980 schließlich überhöht die instrumentale Virtuosität durch eine Expressivität und Poesie, wie sie in der Tradition der franko-belgischen Schule von Vieuxtemps und Ysaÿe vorkommt.
Anfang der 1980er Jahre gibt Boesmans seine Beschäftigung mit Orchesterwerken und Konzerten zugunsten der Oper auf. Doch widmet er sich zwischen zwei aufwendigen Arbeiten für die Bühne oft den – von ihm so genannten – „Ermattungswerken“, die eine Schaffensperiode beschließen, eine neue vorbereiten und ihm nach den Anstrengungen, die eine Opernkomposition mit sich bringt, neue Energie verleihen: So entstand nach Reigen das Werk Dreamtime für Basstuba solo, Harfe und Instrumentalensemble (1993); auf Wintermärchen folgte L’Eau douce du pardon für Singstimme und Kammerorchester (2001) und auf Julie das Sextuor à clavier (2006); und schließlich sind Chambres d’à-côté für Instrumentalensemble sowie Capriccio für zwei Klaviere und Orchester zu nennen (2010 bzw. 2011), die nach Yvonne, princesse de Bourgogne geschrieben wurden.
Auf ähnliche Art entstand das Werk Fin de nuit für Klavier und Orchester, mit dem sich Boesmans im Juni 2017 während der Proben zu Pinocchio in Aix-en-Provence zu beschäftigen begann, um es in den letzten Augusttagen des Jahrs 2018 zu vollenden. Es ist David Kadouch und dem Orchestre Philharmonique Royal von Lüttich gewidmet, das es in Auftrag gab, und besteht aus zwei Teilen. Der erste, „Dernier rêve“, wird nur vom Orchester bestritten und gründet auf einer aufsteigenden großen Terz, treibt sein Spiel mit Ruhepausen, langsamem Tempo und einem (fast) Nichts an Klang; es ist die Beschreibung eines leichten Schlafs zwischen zwei Träumen bei Tagesanbruch, und die chromatischen Beben, das feine Erscheinen und Verschwinden von Klängen erinnern zuweilen an die von Angst geprägten Passagen der Vögel in der neunten Szene von Pinocchio. Im zweiten Teil, „Envols“, kehrt mit dem Motiv der absteigenden – und diesmal kleinen – Terz, die die Figur des Pinocchio charakterisiert, der Schalk zurück, und in einem wie ein Wirbelwind anmutenden Scherzo werden die virtuosen Ausbrüche und die brillanten Kadenzen des Klaviers mit den empathischen oder antagonistischen Echos des Orchesters vermengt. Ab und an scheint in einem dieser Kontextwechsel, die für die Tonsprache von Boesmans charakteristisch sind, eine Reminiszenz aus dem ersten Teil auf – setzt der Schlummer wieder ein? Als ob es sich um eine „orchestrale Oper“ handelte, entspinnt sich in Fin de nuit eine Handlung: Der Schläfer tollt mit seiner Psyche herum.
Cécile Auzolle
(aus „[t]akte“ 1/2019)