Prüfungsangst wird zum Thema für die Opernbühne, eine Bibliothek zum magischen Raum. Was Lucia Ronchetti mit ihrer Oper Esame de mezzanotte für das Nationaltheater Mannheim komponiert hat, trägt surreale Züge und wird das Publikum faszinieren.
Für Lucia Ronchetti bedeutet die Oper Esame di mezzanotte das Ziel ihrer persönlichen Entwicklung, in der sie sich an zahlreichen musikdramatischen Ausdrucksformen versucht hat. Dabei experimentierte die Komponistin mit unterschiedlichen Typen von Räumen, Dimensionen und Figuren und bezog sogar das Publikum aktiv ein. Nahezu ihr ganzes bisheriges musikalisches Schaffen ist im Bereich des Szenischen angesiedelt, und dies oft auf hintergründige Weise. Esame di mezzanotte, entstanden als Auftrag des traditionsreichen Nationaltheaters Mannheim, ist ihr erstes abendfüllendes Musiktheater und eine echte „Oper“ in einer großen Besetzung aus Schauspielern, Solostimmen, Vokalensemble, Chor und Orchester, für die Komponistin aus Rom die bislang größte Besetzung überhaupt.
Für ihr neuestes Werk hat sich Lucia Ronchetti der Mitarbeit des Schriftstellers und Dichters Ermanno Cavazzoni versichert, mit dem sie schon einmal erfolgreich zusammengearbeitet hatte: bei der „harmonischen Komödie“ Anatra al sal, einer Mikro-Oper, die von den kulinarischen Auseinandersetzungen zwischen fünf Meisterköchen und deren Wettstreit um die beste Soße handelt. Ähnlich wie in Anatra al sal, jedoch in größerem Umfang, besteht das komplexe Textgefüge auch hier aus Versen, Paar-Reimen, Kinderliedern und umfangreichen Prosamonologen. Sie bildet eine zuverlässige Inspirationsquelle für eine anspruchsvolle Komposition, in die Lucia Ronchetti ihre umfangreichen Erfahrungen, vor allem mit Vokalmusik, eingebracht hat. Getreu ihrem Ansatz, mit ihren Kompositionen das Erbe der Vergangenheit zu reflektieren, hat Ronchetti sich diesmal den „Meister der musikalischen Dramaturgie” zum Vorbild gewählt, den Verdi des Don Carlos und des Requiems, obwohl zu ihren Inspirationsquellen auch Ravels Daphnis et Chlöé gehört, insbesondere bei der Behandlung des unsichtbaren Chores.
Wie in einer Oper aus vergangenen Epochen wird hier in 15 Szenen eine Geschichte erzählt. Es geht um die Qualen des Giro Lamenti in der Nacht vor seiner Abiturprüfung, der Albtraum von Generationen italienischer Schüler. Der Protagonist muss diese Prüfung wiederholen, da ein Dekret von höherer Stelle sein Examen für nichtig erklärt hat. Die mühevolle nächtliche Suche nach dem unverzichtbaren Überblicksband „Das Zwanzigste Jahrhundert“, der als entscheidend für den Erfolg gilt, ereignet sich in einer „Öffentlichen Bibliothek” mit der unwahrscheinlichen Öffnungszeit von 24 Uhr nachts bis 8 Uhr morgens. Eigenartige Gestalten empfangen ihn dort: der Direktor Rasorio, ein starrsinniger Bürokrat, begleitet von zwei „feierlich blickenden, lauten Hunden” namens Santoro und Fischietti, vergleichbar dem „Komischen Paar“ im Varieté einer verflossenen Zeit. Die Stunden vergehen ergebnislos und auch die engelsgleiche Bibliothekarin Iris kann Giro Lamenti nicht helfen, auch wenn sie ihn hinab in die Unterwelt führt. Sie zeigt ihm dabei die entlegensten und dunkelsten Ecken, bewohnt von seltsamen Kreaturen, darunter auch einer Horde von Schriftstellern, die als Bettler dahinvegetieren. Als wäre sie die wiedergeborene Beatrice Dantes, hilft Iris Giro Lamenti, die Sterne wiederzusehen, dieses Mal an Bord eines rettenden Flugzeugs, das ihn am Ende der Nacht erwartet.
Trotz des leichten und surrealen Tons, der stellenweise an Fellini erinnert, hat Cavazzoni als bibliophiler Autor seinen Text, besonders in den grotesken Zügen seiner Nebenfiguren, mit zahlreichen literarischen Verweisen angereichert, angefangen beim Namen des gepeinigten Protagonisten, der unvermeidlich an den Girolamo seines Romans denken lässt (Le tentazioni di Girolamo, Turin 1991), einen Asketen, der in der syrischen Wüste zwischen zahlreichen Büchern lebt, die unaufhörlich und unwiderstehlich seinen irrlichternden Geist in Versuchung führen. Für Giro Lamenti ist die Bibliothek ein feindseliger unheimlicher Ort, ein Labyrinth wie bei Jorge Luis Borges, wo „die Bücher sich nur anfinden, wenn man nicht nach ihnen sucht”, und wo man das, was man sucht, auf keinen Fall findet. (Wo ist der Band „Das Zwanzigste Jahrhundert“ nur abgeblieben?) Hinter dem leichten, scherzhaften Ton und den spielerischen Paradoxien scheint die Bitterkeit und Nostalgie des Intellektuellen unserer Zeit hervor, der damit konfrontiert ist, dass seine Werte in ihr Gegenteil verkehrt worden sind: Der Schriftsteller ist zu einem schmutzigen Clochard heruntergekommen, der zusammenhanglosen Seiten hinterherjagt, Zeichen einer Erinnerung, die sich zwischen den sinnlosen Formeln einer triumphierenden Bürokratie allmählich auflöst. Die Öffentliche Bibliothek ist ein Universum des Wissens, deren Sinn abhandengekommen ist und die deshalb untergehen wird.
Stefano Nardelli
(aus [t]akte 1/2015 –Übersetzung: Christine Anderson)