Die Uraufführungsserie ist vorüber, geblieben sind die Erinnerungen an zwei große Stunden zeitgenössischen Musiktheaters. Miroslav Srnkas South Pole hat viel Zustimmung erfahren. Ein Rückblick.
Die Überraschung ist groß, wenn sich der Vorhang öffnet: Gleißendes Licht mit einem schwarzem Kreuz auf dem Hintergrundprospekt; akustisch dominant die staccatiert gesungenen Morsezeichen der Amund-sen-Gruppe rechts – als würde ein Dada-Gedicht musikalisch ausgeweitet, die Scott-Gruppe auf der linken Seite entziffert die Zeichen und muss feststellen, dass Amundsen die Richtung geändert hat und auf die Antarktis hinzielt.
Der Sprechgesang der beiden „Quintette“ dominiert weiterhin, vorerst auf der gleichen Tonhöhe, die sich bis zum kompakten Fortissimo steigert. Das erste instrumentale Intermezzo unterbricht mit einfahrenden Klangblitzen, scharf und schneidend wie Schwertstreiche. Nach dem gleißend hellen ersten Bild und den kurzen stockdunklen Sekunden des Zwischenspiels folgt der Winter in dunklem, konturlosem Blau mit kalten Klangentladungen bis an die Schmerzgrenze, nicht primär wegen der Lautstärke, sondern wegen der Schärfe der hell und grell ausgehaltenen Dissonanzen. Die Horizontlosigkeit, das weiße Flimmern und die endlose Weite wurden auf klanglich immer wieder verschiedene Weise dargestellt.
Die weiteren Vorgänge auf der Bühne sind ebenso klar lesbar, da die Geschichte einigermaßen bekannt ist; die Bühnengestaltung verlangt nicht nach angestrengtem Interpretieren von wechselnden Ansichten, man kann sich voll auf den Gesang und die Musik konzentrieren. Diese treibt die Handlung nicht voran, sie greift kaum in den Ablauf ein, sondern prägt mit unterschiedlicher atmosphärischer Intensität die Befindlichkeiten während dieses Wettlaufs. Die kurzen, meist im Dunkeln gespielten Intermezzi öffnen das Ohr immer wieder hin zu diesen unendlichen, eisigen Weiten mit irrlichternden und rotierenden Klangwolken (Srnka nennt sie zutreffender „Klangschwärme“) oder höhnischem Bläsergequake. Manchmal glaubt man die völlige Sinnlosigkeit eines solchen Wettlaufs direkt im Hinterkopf zu spüren, wenn der Klang in dunkle grübelnde Laute übergeht und in energielosem Raunen zusammenfällt. Einmal wenigstens, als Johansen Vögel sieht und in ein Freudengeheul ausbricht, winden sich helle, warme Klänge in die Höhe. Da muss ich unwillkürlich an die „Orel car“-Passage mit dem „Svoboda, svobodička“-Chor in Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus denken, jenen einzigen Lichtblick in der Trostlosigkeit des Gefangenenlagers. Beinah neunzig Jahre liegen dazwischen, aber der Rückbezug lässt mich bis zum Ende der Aufführung nicht mehr los.
Hier bei Srnka sind es zwei Frauen, die den beiden Hauptakteuren in dieser Männerwelt gegenüberstehen, wenn auch nur als Wahnbilder, die aber immer wieder im Wechselgesang miteinbezogen sind – und im sensationellen Quartett, das den ersten Teil beschließt. Dem Vokalen überlässt Srnka jederzeit den Vorrang; was sich in der Erinnerung irgendwie einbrennt, sind die immer wieder aufklingenden langen Haltetöne, welche der echolosen Weite entgegengestemmt werden.
Das ist Musik nicht nur für Insider: Der Orchesterklang kommt atmosphärisch dicht daher, aber verstopft die Ohren nicht, die Klangentladungen wirken kaum je aggressiv, die vier Hauptrollen bieten abwechslungsreichen, dankbaren, ja teilweise sogar wohlklingenden Operngesang, der sich mühelos gegenüber dem Orchester behaupten kann.
Jakob Knaus
(aus [t]akte 1/2016)
Pressestimmen
„Dieses Werk wird bleiben […] Es höre, sehe und begreife, wer hören, sehen und begreifen kann. Tom Holloways grandioses Libretto zu South Pole aber und Miroslav Srnkas vielleicht noch grandiosere Musik treiben das Konkrete so weit in die Abbreviatur und Abstraktion, lassen umgekehrt alles Abstrakte so konkret werden – und das ist das Neue, auch Radikale an dieser zunächst eher wenig radikal erscheinenden „double opera“ –, dass der Mensch sich gleichsam nackt macht. […] Ein gewisses Pathos mag Miroslav Srnka nicht fremd sein. Doch der 40-jährige Tscheche will viel mehr und kann viel mehr. Orchesterklang und Gesang folgen bei ihm einer Schwarm-Ästhetik, und das ist das Aufregende, Neue, wobei einem die Musik nie in den Gehörgängen scheuert: Es sind eben keine abgezirkelten Klangflächen respektive -zustände, die hier quasi impressionistisch entworfen werden, sondern Klangskulpturen, etwas Wesenhaftes, das sich wie aus sich selbst heraus bewegt. Das Movens dazu liegt in den Mikrostrukturen der Partitur, im prismatisch-pointillistischen Zerstäuben vieler Klänge – und auch im Spiel mit einem gewissen Naturalismus: Natürlich hört man Kälte heraus, Knacken, Klirren, Pfeifen, bohrende Ostinati, aufheulende Cluster und dergleichen. Illustrativ aber wird Srnka nie, im Gegenteil, seine Klangfantasie braucht das Gegenständliche nur, um sich daran zu entzünden. […] Ovationen für eine Oper, die ihren Weg gehen wird.“
Christine Lemke-Matwey / DIE ZEIT 4.2.2016
„… eine Parabel auf letzte Dinge, die eiskalt, nicht ohne ironische Brechung, Fragen stellt, die so aktuell sind, dass es klirrt.“
Eleonore Büning / Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.2.2016
„Srnka komponiert in keinem Moment illustrativ, sondern sucht mit einer unglaublichen Vielfalt an Klängen eine musikalische Entsprechung für die bedrohliche Stimmung in der Antarktis und schafft äußerst komplexe wie atmosphärische Hörbilder. Ihm gelingt es, dem blendenden Weiß des Sonnenlichtes klangliche Konturen zu geben, aber auch die klirrende Polarkälte kriecht einem beim Hören in die Glieder. Bläser und Streicher werden oft geteilt und sorgen für zarte, fast beiläufige Klänge.“
Yvonne Petitpierre / Deutschlandfunk 2.2.2016
„[Srnka] findet überaus atmosphärische Klänge für die klirrende, Tod bringende Kälte. Auch die Gewalt der arktischen Natur und ihre fade schimmernde Gleichgültigkeit kommt mit faszinierenden Glissandi, beißenden Clustern und Mark erschütterndem Donner aus dem Orchestergraben.“
DeutschlandRadio Kultur 31.1.2016