In allen Epochen der westlichen Instrumentalmusik war die Zusammenarbeit mit erstklassigen Solisten für Komponisten von entscheidender Bedeutung, wenn es um das Schaffen neuer Werke ging. Wie als Reminiszenz an die Barockzeit kamen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Solistenensembles auf, die sowohl das Tutti- als auch das Solospiel beherrschen. Als Beispiel dafür sei das Ensemble Recherche genannt, das in jüngster Zeit zwei zeitgenössische Werke zur Uraufführung brachte: Pas à pas von Philippe Hurel in Venedig und L’Amérique d’après Tiepolo von Hugues Dufourt in Witten (s. [t]akte 1/2016). Die französische Erstaufführung beider Kompositionen wird am 5. Oktober 2016 im Rahmen von „Musica“ in Straßburg stattfinden.
Michael Jarrell (* 1958) hat bereits im Alter von 25 Jahren mit Assonance Aufmerksamkeit erregt, einem Werk, das den Preis der Jury des Centre Acanthes erhielt. Komponieren fasst er als eine Kunst auf, zwischen zwei Stücken eine Verbindungslinie zu ziehen, durch die sich ein Gedanke erschließt (Jarrell ist ein Bewunderer von Alberto Giacometti und dessen Kunst, mit einem einzigen Strich einen Blick, ein Gesicht oder ein ganzes Leben darzustellen). Immer wieder kehrt er zu einer solistischen Tonsprache zurück, um seiner Klangvorstellung Ausdruck zu verleihen. Feine und grobe Linien durchziehen das Klangbild seines Œuvres, dessen Bandbreite von Stücken für Soloinstrumente über Ensemblestücke (auch mit Elektronik) bis zu (Tripel-)Konzerten reicht. Wie sich durch Verbindungen zwischen seinen Werken Kreise schließen, zeigen beispielhaft das 1988/89 am Ircam realisierte Stück Congruences für MIDI-Flöte, Oboe, Ensemble und Elektronik sowie Sillages – Congruences II für Flöte, Oboe, Klarinette und Orchester (2005).
Die Abläufe in Jarrells Gedankenwelt sind mit der Struktur eines Baumes vergleichbar. Dass das Solokonzert in seinem Werk eine bedeutende Rolle spielt, lässt sich daran ablesen, dass es sich bei den beiden Konzerten, die diesen Herbst zur Uraufführung gelangen, um die Nummern 23 bzw. 24 handelt. Das Tutti, sei es Elektronik, Instrumentalensemble oder großes Orchester, versteht Jarrell als eine Erweiterung des Soloparts. Dieses Verfahren ist neben der raffinierten Orchestrierung, die schon bei den Instantanés für Orchester (1986) hochgelobt wurde und sich dann in den Trois études de Debussy deutlich manifestierte, das stilbildende Element seiner Tonsprache. Jarrell vermag die Binnenstruktur eines Instrumentalklangs durch den Einsatz verschiedener Spieltechniken feinsinnig auszuarbeiten, ohne sie zu entstellen. Das Konzert für Bratsche und Orchester Emergences-Résurgences wurde für Tabea Zimmermann geschrieben, die es zur Uraufführung bringen wird, und weist vier Sätze sowie drei „transitio“ genannte Kadenzen auf. Es sind u. a. Motive auszumachen, die sich in durchbrochener Form häufen, verlängerte Nachklänge, technische Verfahren, die ihre Entsprechung in uniformen Flächen und isolierten Klängen des Soloparts finden.
Durch die meisterhafte Beherrschung des Materials ergibt sich ein vielfältiges Wechselspiel zwischen Solist und Orchester. Jarrell setzt seine Arbeitsweisen auch zu gewissen Techniken der künstlerischen Druckgrafik in Bezug: So gab er seinem Konzert für Oboe und Orchester den Titel Aquateinte, was für eine in ihrer Wirkung der Tuschzeichnung ähnelnde Ätzradierung steht, bei der die Säure die von der Radiernadel freigelegten Stellen der Kupferplatte angreift. Die musikalischen Entsprechungen – Einschnitte, Linien, Teilverknappungen, Zacken – sind speziell für den Oboisten François Leleux konzipiert und machen die kostbaren Elemente dieses Solokonzerts aus.
In die Reihe von Jarrels Solokonzerten des Jahres 2016 gehört auch das kurz vor der Vollendung stehende, für Ilya Gringolts und das Orchestre de Chambre von Lausanne komponierte Violinkonzert, das noch ohne Titel ist. Es kann als Weiterverarbeitung des 2015 als Wettbewerbsbeitrag für den Concours Reine Elisabeth de Belgique entstandenen Violinkonzerts … aussi peu que les nuages… betrachtet werden, als eine Art „Durchführung“, wie sie im 19. Jahrhundert von zentralem Interesse war. Hier findet sie sowohl im großen Maßstab statt, indem sie die Verbindung zweier Stücke herstellt, als auch im Kleinen, nämlich in der sinnfälligen Beziehung der Linien untereinander.
Benoît Walther
(übersetzung: Irene Weber-Froboese)
(aus [t]akte 2/2016)