Die Werke des österreichischen Komponisten Thomas Daniel Schlee tragen eine unverwechselbare menschliche Handschrift. Zu ihrem Verständnis ist keine Gebrauchsanweisung nötig.
Die österreichische Kultur ist für den Wiener Thomas Daniel Schlee einerseits, die französische für ihn als Schüler Olivier Messiaens andererseits bestimmend, so dass man jene Weitung ahnt, die ein nur einsprachiges Terrain nicht bieten kann. Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen deiner Sprache sind die Grenzen deiner Welt.“ Schlees humanistische Prägung zeigt sich in einer Darlegung wie dieser, die er im Februar 2013 vor der Uraufführung von Rufe zu mir, einer symphonischen Szene für Orgel und Orchester, in Leipzig coram publico geäußert hat: „Kunst ist auch dazu da, Antworten zu geben! Die gute Wirkung der Kunst in der Geschichte wird annulliert durch den Standpunkt, Kunst sei dazu da, um Fragen zu stellen.“
Betrachtet man, hört man Schlees Orgelmusik auch vor diesem Hintergrund, so bemerkt man rasch, dass es sich in spieltechnischer wie spiritueller Weise um Musik für und nicht bloß auf diesem so besonderen Instrument, dieser „erhabenen Maschine“ handelt. Die Orgel ist kein neutrales Instrument: Schlees Orgelmusik ist ein großes, nachdrückliches Ja zu den mit dem Orgelklang untrennbar verbundenen spirituellen Assoziationen.
Thomas Daniel Schlees Persönlichkeit und gleichermaßen seine zumeist in abendlichen Arbeitssitzungen oder in Phasen der Abgeschiedenheit entstandene Musik bestechen durch ihre Noblesse. Doch beschränkt sich diese Noblesse nicht auf einen äußeren Habitus. Der windkanalgeglättet anmutenden Austauschbarkeit anderer Partituren, die – ganz gleich, ob sie in Fern- oder Nahost, in Europa oder Amerika entstanden sind – in so vielem beliebig sind, diesen oftmals grafisch anspruchsvollen Arbeiten mit ganz kurzer musikalischer Halbwertzeit stehen Schlees Partituren gegenüber, die in ihrer Textur bei aller Vielgestaltigkeit unverkennbar die einende, unverwechselbare Handschrift aufweisen. Eine Musik, die auf den Menschen zugeht, den Hörer einlädt, sich aber nie anbiedert. Das stupende handwerkliche Können ist so selbstverständlich mit eingeschlossen, dass es nicht vordergründig aufscheint. Auf welchem Niveau es rangiert, bemerkt man allerdings rasch beim analytischen Beleuchten von Details und ihren Ausstrahlungen in die größeren Zusammenhänge.
Was hier zunächst nach freundlichen Gemeinplätzen klingen mag, kann man leicht im interpretatorischen oder hörenden Selbstversuch probieren: Man spürt die Bereicherung. Man behält vielleicht keine „Melodie“, aber man nimmt einen Abdruck, den Nachklang einer verständlichen musikalischen Gestalt mit, an den man sich im Übergeordneten erinnert, der einen nicht kalt lassen kann, weil er aus einem so reichen Inneren, einer immensen Phantasie erhört und von jemandem, der etwas zu sagen hat, geformt, formuliert wurde.
Man benötigt keine Gebrauchsanweisung, um mit diesen Werken etwas anfangen zu können. Das Komponieren steht für ihn innerhalb seines mehrschichtigen beruflichen Spannungsfeldes als Komponist und Intendant. Beim Schreiben spielt für ihn die Frage, ob das neu sei, keine Rolle; die Dinge, die nur gemacht werden, um à jour zu sein, entlarven sich mit der Zeit als Lüge: „Ich schreibe nur für mein eigenes Vergnügen!“
Wenn es stimmt, was Friedrich Nietzsche sinngemäß so geäußert hat, dass unser Schreibwerkzeug unsere Gedanken mitbestimmt, dann weiß man, dass sich Thomas Daniel Schlee niemals ein Notensatzprogramm anschaffen wird! Er wird nicht die Übersicht, den Blick auf die ganze handgeschriebene Partiturseite und die vorigen Blätter, auf die Skizzen missen wollen. Das mühsame, doch im allmählichen Werden erfüllende Geschäft des Reinschreibens mit Tinte bekommt der musikalischen Formung, gereicht ihr zur im Moment des Notierens bestmöglichen Gestaltwerdung. Die Reinschrift auf der Basis einer Vorstufe ist ja nie nur bloßes Abschreiben, ist fast immer auch Präzisierung und Verfeinerung. Die Schlees Schaffen begleitenden Äußerungen zum Werk, zum Metier und zur kulturellen Situation zeigen einen sehr eigenen, in seinen vielen Facetten leidenschaftlich verteidigungsbereiten Standpunkt; andere Äußerungen deuten auf heftig Widerfahrenes und Erlittenes. In seinem kompositorischen Schaffen ist die Spiritualität eine bestimmende Dimension, so dass man sehr häufig eine „spirituelle Dominante“ in Werken aus unterschiedlichen Gattungen erkennen kann, zudem weisen die vielen suggestiven Titel darauf hin.
Michael Töpel
(aus: [t]akte 2/2015)