1958 schrieb Jean Barraqué Musik für ein absurdes Theaterprojekt, das nicht auf die Bühne gelangte. 60 Jahre später wird die Uraufführung nun in Wien nachgeholt.
Dass Jean Barraqué eine Musique de scène geschrieben hatte, war vor allem durch die Arbeit von Heribert Henrich bekannt – das Originalmanuskript wurde nun von dem Musikwissenschaftler Laurent Feneyrou in der Bibliothèque national de France ausgewertet und wird bei Bärenreiter erstmals ediert. Zudem galten die Dramen von Jean Thibaudeau, auf die sich Barraqués Musik bezieht, als verschollen. In der Produktion „Die Reise" bei „Wien modern“ macht nun das „sirene Operntheater“ die Werke zum Gegenstand eines Bühnenprojekts. Marie Luise Maintz sprach mit Jury Everhartz, dem Leiter von „sirene“.
[t]akte: Ihre Produktion ist der Schlusspunkt einer längeren Detektivarbeit zu Barraqués Musique de scène. Eine lange Reise für dieses Werk also – ist dies der Anknüpfungspunkt für Ihre Produktion?
Everhartz: Es gibt zur Zeit sehr viele Bewegungen, in unserer und in vielen unserer Nachbargesellschaften. Noch bevor wir die Schauspieltexte von Jean Thibaudeau gelesen haben, konnten wir aus den Überschriften der einzelnen Miniaturen einen Reiseverlauf erkennen. Unser Anknüpfungspunkt sind aber nicht die Texte selbst, sondern die ursprüngliche Idee, mit der Jacques Polieri 1958 Jean Thibaudeau und Jean Barraqué zusammenbrachte: nämlich an einem Projekt zu arbeiten, an dem sich verschiedene Künstler aller möglichen Sparten autonom beteiligen sollten. Schon das ist ja eine Reise, wobei wir unter Reise ein Vorhaben mit ungewissem Ausgang verstehen. Natürlich war die lange Reise der Texte selbst eine spannende Sache.
Was sind das für Texte von Jean Thibaudeau? Wie gehen Sie damit um?
Thibaudeau hat einige kurze Dramolette geschrieben, die inhaltlich nicht ohne Weiteres referierbar sind. Die Erfahrung des Absurden steht dabei im Vordergrund, er schreibt natürlich auf der Höhe seiner Zeit. Man sieht sofort das Vorbild Samuel Becketts. Es gibt einen gewissen dramaturgischen Bogen, eine Bewegung, eine Reise zum Ich, Fragen, die dadurch beantwortet werden, dass man sie vielleicht gar nicht stellen kann. Diese Texte haben einen hohen zeithistorischen Wert, sind in der Frische und Unmittelbarkeit ihrer poetischen Erfindungskraft aber durchaus auch von einer gewissen virulenten Quecksilbrigkeit. Wir werden nicht alles spielen, auch nicht in der richtigen Reihenfolge, eher sogar ohne Reihenfolge, weil wir unser Publikum auf eine Reise ganz eigener Art schicken. Wir fühlen uns zur Mitarbeit an dieser Reise eingeladen, als hätte Jacques Polieri selbst gefragt – aber ich denke, dass wir auch den Texten von Jean Thibaudeau gerecht werden, mit einem etwas verdichteten Fokus. Dabei müssen wir natürlich auch noch das eine oder andere sprachliche Problem lösen, Thibaudeau arbeitet ja – sehr französisch – sprachorientiert. Und schon der einfache Unterschied zwischen „je“ und „moi“ ist im Deutschen nicht ohne Weiteres abzubilden.
Wie begegnen Sie Barraqué, dem bekannten Unbekannten?
Barraqués Musik ist Bekenntnis, auf eine heute nahezu unvorstellbar radikale Art und Weise. Man könnte sagen: Er meint es wirklich ernst. Hinter ihm steht nur der Tod, sonst gibt es keine Kompromisse, kein freies Spiel. Darin liegt eine gewisse Dichotomie: Der Versuch, etwas sehr Absolutes zu sagen, ist paradoxerweise ja eine sehr persönliche Aussage. Das wirklich Objektive trifft bald das wirklich Subjektive – und auch andersherum. Und in einer Dichotomie steckt immer eine Dynamik, was wir mit dem Titel Die Reise auch einfangen. Mit der Musique de scène kommen wir der Arbeitsweise Barraqués sehr nahe, man ahnt, wie in ihm der Plan zu einem groß angelegten Werk entsteht – aber es ist ja ein Fragment. Wir sind dabei ganz an der Basis der ersten Erfindung – und dieses unfassbar großen Alleinseins, das die Arbeit Barraqués prägt. Mit dieser Musik erlebt man den Beginn einer Arbeit, einen Aufbruch auf die andere Seite – mit der offenen Frage, was dort eigentlich zu finden sei. Wieder nur das eigene Ich oder das ganz große Andere? Barraqué schreibt nach sehr strengen Gesetzen, aber durch die von ihm entwickelte Erweiterungstechnik der seriellen Komposition steht er auch nahe am Unbekannten. Wir spielen seine Musik auf diese Art und Weise, selten stehen das Erhabene und das Lächerliche ja so dicht beisammen. Was nicht in Frage steht: das Pathos dieser Kunst.
Was ist für Sie, die Regisseurin, die Bühnenbildnerin an diesem Projekt besonders interessant?
Der größere und wichtigere Teil liegt im Dunkeln, unter der Oberfläche. Und mag man auch Löcher bohren, Knöpfe öffnen, entkleiden, enthüllen, eröffnen und zerlegen – man findet immer wieder nur – und nichts Anderes als … Oberfläche. Das Verborgene bleibt verborgen, man kann nur in der Imagination darin eintauchen. Das ist die Spannung zwischen Barraqué und Thibaudeau …
(aus [t]akte 2/2017)