[10.10.2012] Thomas Daniel Schlees Rufe zu mir für Orgel und Orchester wird im Februar im Gewandhaus Leipzig unter Leitung von Riccardo Chailly mit Michael Schönheit als Solist uraufgeführt und erklingt kurz darauf als österreichische Erstaufführung in Wien.
Eine „Symphonische Szene“ nennt Thomas Daniel Schlee seine konzertante Musik für das Gewandhausorchester und Solo-Orgel. Ihr Titel, Rufe zu mir, stellt als poetische Idee einen sakralen Gedanken in den Mittelpunkt, denn „die Assoziation zum Sakralen“, so der Komponist, „ist bei der Orgel immer vorhanden, auch wenn man für den Konzertsaal schreibt“. Diesen Bezug möchte Schlee hier „eher als magische Kraft begreifen und eben nicht verhüllen“, vielmehr schöpft er daraus eine thematische Ausgangsbasis für die Beziehung zwischen Soloinstrument und Orchester: „Rufe zu mir, dann werde ich dir antworten“ nach Jesaja ist zugleich poetische Situation und Programm. Die Allgegenwart Gottes, personifiziert in der Solostimme, wird in einem überraschenden, geradezu dramatischen Szenario entwickelt. Schon beim Auftritt des Dirigenten und über die ersten Minuten der viertelstündigen Komposition ist ein tiefer Pedalton unterschwellig präsent, der ebenso wie kurze zusammenfassende Passagen der Orgel kaum wahrnehmbar sein wird. Der Beginn besteht aus Anrufungen in vielfältigen Ausprägungen, aus einem „de profundis“ des Orchesters, das die Menschheit, die Welt versinnbildlicht.
Eine zutiefst menschliche Konstellation sieht Schlee in diesem spannungsreichen Beginn, in dem auf vielfältiges Rufen (vermeintlich) keine Antwort erfolgt. Sie kommt indes als überwältigender Moment aus dem Nichts: ein gewaltiger E-Dur-Akkord im dreifachen Fortissimo, ausgedehnt im langsamen Tempo. E-Dur ist, anknüpfend an den „heiligen Klang“ in Messiaens La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ, als Akkord (nicht als Modus) ein geheimer Bezugspunkt für die gesamte Komposition. „Das Wichtige in dem Anfangsteil ist der Bass, der als Fundament das ganze Geschehen im Orchester führt, auch wenn er nicht im Vordergrund wahrnehmbar ist. Der symbolische Gedanke, dass in Gottes Hand ist, was auch immer passiert, rührt natürlich an große Glaubensfragen, wie etwa bei Hiob.“
Im folgenden Teil korrespondieren Solist und Orchester in verschiedenster Weise, wobei Schlee aus dem heiklen Problem, das immer im Aufeinandertreffen der Intonation der Blasinstrumente mit der invariablen Stimmung der Orgel entsteht, ein Potenzial schöpft: Er lässt den Mittelteil in eine Passage münden, in der das Orchester wie eine Orgelmixtur, also in festen Obertonkonstellationen zum Grundton agiert. Hier mutiert das gesamte Orchester zu einer Riesenorgel. Am Schluss wiederholt sich das Geschehen des Anfangs in einer harmonischen Deutung. Statt des unhörbaren Basstons spielt die Orgel E-Dur und verschwindet allmählich im Orchester. „Der ‚heilige Klang’, in den das Orchester mündet, ist wieder da. Diese einfache Gegenwart hat eine wunderbare Entsprechung in den gotischen Kathedralen, in denen selbst die nicht sichtbaren Bauelemente kunstvoll gestaltet sind.“ (Schlee).
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2/2012)