Die alten Mythen sind aktuell wie immer. Mit Salvatore Sciarrino wählt wieder ein Komponist einen Stoff aus der Orestie für eine Oper.
„Ich glaube, wir müssen unseren Geist öffnen. Wir müssen diese Komplexität, die es in jeder Vergangenheit gibt und die wir uns von den winzigen Spuren allein nicht vorstellen können, entschlüsseln. Dies gilt insbesondere für die klassische Antike, die in den Klassenzimmern vertrocknet ist, als wäre sie nie lebendig gewesen.“ Die neue Oper Il canto s’attrista, perché? [Betrübt wird der Gesang, warum?] von Salvatore Sciarrino fußt auf einer der emblematischsten und bekanntesten Geschichten der klassischen Antike.
Er wählte die Orestie, die vielleicht größte je geschriebene Tragödie, als Quelle für seine jüngste Arbeit. Das erste Buch der Orestie, Agamemnon, das den Stoff für Sciarrinos Oper liefert, stellt das Bindeglied zwischen Iphigenie in Aulis und Elektra dar. Viele Jahre sind vergangen, seit Iphigenie von Agamemnon geopfert wurde, um die Götter im Krieg gegen Troja zu besänftigen. „Ich war’s, die dich zum ersten Male Vater nannte, die Erste, die du Kind genannt“ (Euripides): Agamemnons erste Tochter wurde ihrer Mutter Klytaimnestra entrissen. Und zehn lange Jahre – seit Agamemnon nach Troja gegangen ist – sinnt die Königin auf Rache.
Ein Wächter wartet jede Nacht auf dem Dach des Palastes auf das Signal, dass Troja besiegt wurde. In dieser Nacht trifft schließlich das Signal ein. Am nächsten Morgen kündigt die Königin Klytaimnestra dem Volk das Eintreffen von König Agamemnon an, der sich in den „geliebten Palast“ begibt. Agamemnon trifft mit der Kriegssklavin Kassandra, die Tochter des feindlichen Königs Priamos, ein. Er hat den Krieg gewonnen, aber er sieht nicht wie ein triumphierender Mann aus. Im Gegenteil, er ist erschöpft und ängstlich. Nach einem kurzen Streit mit der Königin Klytaimnestra betritt Agamemnon den Palast, während Klytaimnestra die Hilfe des Zeus für die „zu erledigende Arbeit“ anruft. Der Chor spürt unheilvolle Zeichen, als stünde eine Tragödie bevor. Kassandra erzählt von ihrem Schicksal als Priesterin Apollos, die dazu verurteilt ist, die Vergangenheit zu erraten und die Zukunft vorwegzunehmen, ohne dass man ihr glaubt. Sie sieht den Schrecken der Verbrechen, die in diesem Palast begangen wurden und diejenigen, die bald geschehen werden. Ihr Leiden nimmt mit ihren Todesvisionen zu, ebenso wie ihr Gefühl der Rebellion gegen den Gott Apollon, der sie zum Schlachthof führt. Dann betritt sie den Palast. Vom Palast aus hört man die Schreie von König Agamemnon, der von der Königin und ihrem Liebhaber Aegisth massakriert wird, aber das Volk greift nicht ein. Klytaimnestra erscheint mit ihrer noch blutigen Axt und zeigt die Opfer ihrer Rache. Die Menschen sind eingeschüchtert. Das Klima ist angespannt. Klytaimnestra ist skrupellos und bekräftigt mit der Entscheidung „wir sind die Herren, wir werden alles in Ordnung bringen, wie es sich gehört“. Der Chor singt ein düsteres Lied über das menschliche Schicksal.
Im Vergleich zum Originaltext schneidet, transformiert und verschiebt Sciarrino in diesem Werk, das nicht als „Oper“, sondern „Szenen aus Aischylos“ genannt wird – insgesamt sieben Szenen. Sie sind zwischen einem „Prologo“ (Vorspiel) und einem „Congedo“ (Abschied) eingeschlossen und symmetrisch um die vierte Szene herum organisiert, die als „Intermezzo“ (Zwischenspiel) fungiert, als wollte der Autor eine gewisse Fragmentierung hervorheben, ein fast filmisches Vorgehen. Kinematografisch ist auch der „Suspense“, wie Alfred Hitchcock lehrte, der im Zuschauer durch das Wissen um das, was ihn erwartet, erzeugt wird. Es ist nicht die Überraschung, die sich in wenigen Sekunden des Schreckens auflöst, sondern die starke dramatische Spannung, die sich entwickelt und die Ereignisse offenbart.
Auch die Anzahl der Figuren wurde reduziert. Es gibt drei Hauptfiguren („Interlocutori“), die den Dialog zwischen Antike und Gegenwart bestreiten: Klytaimnestra (Mezzosopran), Agamemnon (Bariton) und Kassandra (Sopran). Unter den dreien sticht Klytaimnestra hervor, während Kassandra als eine Art Primadonna in der siebten und längsten Szene dominiert. Aegisth, der Liebhaber der Königin und Komplize des Königsmordes, erscheint nicht, wird aber von Klytaimnestra als Wächter des Hauses bedrohlich beschworen, während aus den Körpern von Agamemnon und Kassandra das frische Blut fließt. Zu den drei Protagonisten gesellen sich der Wächter (Countertenor), der auf dem Dach des Palastes auf das Signal wartet, und der Herold (Bass). Der Chor des Volkes von Argos ist ständig auf der Bühne präsent, sieht die Ereignisse, reflektiert und kommentiert sie. Der Chor ist berührt von den bitteren Versen, die das Werk in der „Congedo“ (Abschied) abschließen:
„O Schicksal der Menschen, / Der Schatten eines Traums / ist das Glück. Wenn das Unglück kommt, / verblasst auch der Schatten: / Ein nasser Schwamm / löscht das Bild. / Schmerz und Mitleid.“
Für Sciarrino „bedeutet die Hinwendung zur Tragödie, sich unsere Zivilisation wieder anzueignen und ihr
Bewusstsein zu nähren“. Jeder große griechische Philosoph entdeckt ein Prinzip des Universums. Aischylos bekräftigt den Vorrang der Weisheit. Nur mit dieser Weisheit, sagt der Komponist, können wir auf Erlösung hoffen und uns der Angst, dem Schmerz und dem Wahnsinn unserer Zeit stellen.
Stefano Nardelli
(aus [t]akte 1/2020)