Am 26. März kann die Komponistin Édith Canat de Chizy (* 1950) ihren 70. Geburtstag feiern: Anlass genug, um ihr im Rahmen des Festivals „Présences féminines“ von Toulon (16.–25. März 2020) die Ehre zu erweisen. Es werden dort etliche ihrer Werke zur Uraufführung gelangen, u. a. ein fünftes Streichquartett mit dem Titel O God!, das für das Quatuor Van Kuijk geschrieben wurde.
Das besondere Ereignis gibt auch Anlass zur Beschäftigung mit ihrem Werkverzeichnis, das heute
u. a. sieben Werke für Orchester und ebenso viele Solokonzerte aufweist, die mit Ausnahme von Voilé, Dévoilé für Frauenstimme und Orchester sowie Couleur d’Abîme für Orchester alle auf CD eingespielt wurden – ein Bereich, der der Komponistin sehr behagt, handelt es sich dabei doch um musikalische Ausdrucksmittel, die ihrer Suche nach dem Besonderen am besten dienen.
Material, Bewegung, Raum
Der Klang und die ihn antreibende Energie sind die Elemente, welche die Musik von Édith Canat de Chizy auf Anhieb zu einem fesselnden Hörerlebnis machen. Ganz besonders spannend ist die Art, wie sie ihre Orchesterwerke eröffnet: Ein durchdringendes Kratzgeräusch des Tamtams besetzt den Raum in Pierre d’éclair (2011), bevor die trockenen Schläge des Tempelblocks einsetzen; erst dann kommt die Klarinette hinzu, mit der sich Linie und Farbe einstellen. In Times (2009), einem für den internationalen Wettbewerb für junge Dirigenten in Besançon geschriebenen Stück, ist es ein scharfer Paukenschlag, der vom Holzblock abgelöst wird, bevor die Trompete ihre ersten Rufe ertönen lässt. Das gleiche Vorgehen findet sich in Alio (2002), worin das klangvolle Rattern der Tomtoms zu hören ist, bevor eine von der Komponistin nach Belieben gestaltete, unwägbare Klangdramaturgie ihren Lauf nimmt. Zahlreich sind ihre Kompositionen mit Bezug zu außermusikalischen Bereichen, die den ersten Anstoß zu einem Werk geben oder dessen gesamte Entwicklung bestimmen: Das können literarische und poetische Quellen sein (La ligne d’ombre bzw. Pierre d’éclair) oder ihren Ursprung in Gemälden haben (Omen). Die drei Teile des Bratschenkonzerts mit dem Titel Les Rayons du jour nach einem Bild von Nicolas de Staël entsprechen den verschiedenen Abschnitten des künstlerischen Schaffens dieses Malers: „Déchirure, Mouvement, Transparence“. Sie stellen jene drei Arten des Umgangs mit dem Klangmaterial dar, die zu den Konstanten in der Tonsprache der Komponistin gehören. Die jähen Brüche und scharfen Kontraste von Pierre d’éclair oder Alio sind bereits in Yell (1985) zu hören, der „Mutter ihrer Werke“, wie Canat de Chizy gerne sagt. Darin überträgt sie in den instrumentalen Bereich die Techniken der elektroakustischen Studios wie Montage, Filtration, Einschleifen und Tonmischung, mit denen sie sich während ihrer Ausbildung vertraut gemacht hat und die sie als Verfahren in ihren Orchesterwerken immer noch anwendet, wenn auch heute in verfeinerter Art und Weise. Es sei noch ein weiteres Prozedere erwähnt, das sie meisterhaft beherrscht: den häufigen Klangwechsel von einem Pult zum anderen. Sie entwickelt Linien und Abläufe innerhalb eines Raums, dessen Grenzen sie unentwegt umstößt, um so erfassbar zu machen, was über uns hinausreicht. Die Streicherstimmen werden hauptsächlich von einem vibrierenden Klanggewebe bestimmt, das den Eindruck von Bewegung im Unbeweglichen vermittelt, woraus durchaus etwas Geheimnisvolles entspringt. Ein solcher Klangteppich findet sich in La ligne d’ombre (2004), wo er das musikalische Geschehen mit konzentrierter Energie in Wartestellung hält, bevor der unvermeidliche Ausbruch stattfindet. Was die Farbe betrifft, so besteht sie bei Canat de Chizy meistens aus einem reinen Klang, wie z. B. bei der Klarinette in Omen, die ihre ersten, strahlenden Arabesken über einem vibrierenden Streichergrund ausführt. Von arroganter Art ist die Trompete – ein von der Komponistin hochgeschätztes Instrument – in Times, wogegen sie sich beim gestopften Spiel sehr expressiv zeigt, insbesondere am Ende von La ligne d’ombre, wenn sie in einem stillen Raum eingesetzt wird, dessen Tiefe sie durchmisst.
Der äußerst farbenreiche Orchestersatz würde seine Kraft und seine räumliche und zeitliche Dimension nicht ohne das Schlagwerk entfalten können, das sich wie bei Varèse zu einem unerschöpflichen Bereich entwickelt, den Édith Canat de Chizy unbedingt für sich beansprucht. Ihre Orchesterbesetzung sieht zusätzlich zu den Paukisten gewöhnlich drei, manchmal sogar vier Schlagzeuger vor, die nachhallende, raumgreifende, leuchtende Instrumente wie Fingerzymbeln, Vibraphon, Becken, Gong usw. neben eher „trockenen“ wie Tempelblock, Holzblock, Tomtom, Tumba spielen, die als Signale ertönen und die Dramaturgie steuern. Erstaunlich genug, dass Canat de Chizy erst 2016 ihr Schlagzeugkonzert Seascape schrieb, in dem sich das Klavier mit dem Spiel auf den Saiten dem Schlagwerk annähert, um dessen klangliche Wucht noch zu steigern.
Michèle Tosi
Übersetzung: Irene Weber-Froboese
(aus [t]akte 1/2020)