Die dritte, die sogenannte „Orgel-Symphonie“, von Camille Saint-Saëns steht am Beginn einer vollständigen historisch-kritischen Ausgabe der Instrumentalwerke des französischen Komponisten.
„Ich habe in diesem Werk alles gegeben, was ich geben konnte. […] Was ich hier gemacht habe, werde ich nie wieder machen.“ Camille Saint-Saëns war zu Recht stolz auf seine dritte, dem Andenken Franz Liszts gewidmete Symphonie c-Moll op. 78. Die wegen ihrer originellen Besetzung sogenannte Orgel-Symphonie“ war – wie Beethovens Neunte – ein Auftrag der Royal Philharmonic Society in London und wurde dort am 19. Mai 1886 uraufgeführt. Die Pariser Premiere folgte am 9. Januar 1887 und bestätigte den Ruf des Komponisten als „wahrscheinlich der bedeutendste, sicherlich der selbständigste französische Symphoniker“ seiner Zeit, wie Ludwig Finscher in der MGG schreibt. Tatsächlich steht das Werk bis heute als Solitär der Gattungsgeschichte in Frankreich da – ein gutes halbes Jahrhundert nach der Symphonie fantastique von Hector Berlioz und ein gutes halbes Jahrhundert vor der Turangalîla-Symphonie von Olivier Messiaen.
Man sollte meinen, ein derart berühmtes, viel gespieltes und Dutzende Male aufgenommenes Opus sollte keine Geheimnisse mehr bergen, doch weit gefehlt: In der ersten historisch-kritischen Edition der Symphonie wurden zahllose Unstimmigkeiten und Fehler der bislang gebräuchlichen Durand-Ausgabe aufgedeckt und bereinigt. Die Sichtung und Auswertung der Quellen reichte von zwei frühen, heute in Paris und Washington aufbewahrten Skizzen (in denen die Symphonie noch in h-Moll stand!) über das Autograph und einen von Saint-Saëns selbst korrigierten Fahnenabzug bis hin zu den Erst- und Folgeausgaben der Partitur und der Stimmen. Hinzu kamen die Fassungen für Klavier zu vier Händen (von Léon Roques) und für zwei Klaviere (vom Komponisten selbst). Weitere entscheidende Hinweise fanden sich schließlich in seiner Tausende von Briefen umfassenden, bislang unveröffentlichten Korrespondenz. Zu den Erkenntnissen dieser Edition gehört etwa, dass die Symphonie bei ihrer Londoner Uraufführung wohl noch ganz anders aussah als heute …
Nicht weniger spannend als das Werk selbst ist seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, die das umfangreiche Vorwort nachzeichnet. Saint-Saëns war mit seiner Symphonie mitten in den Streit hineingeraten, der in den 1880er und 1890er Jahren das französische Musikleben pro und contra Wagner spaltete. Dabei gelingt dem Werk auf meisterhafte Weise, die Balance zwischen Tradition und Moderne zu wahren, wie ein Kritiker damals feststellte: „Die c-Moll-Symphonie von Monsieur Saint-Saëns schlägt eine Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft, vom unsterblichen Reichtum zum Fortschritt, vom Gedanken zu dessen Umsetzung.“
Am 19. März 1886 schrieb Saint-Saëns an seinen Auftraggeber, die Royal Philharmonic Society:
„Die Arbeit an der Symphonie ist in vollem Gange. Aber ich warne Sie: es wird ungeheuerlich. Hier die genaue Besetzung: 3 Flöten / 2 Oboen / 1 Englischhorn / 2 Klarinetten / 1 Bassklarinette / 2 Fagotte / 1 Kontrafagott / 2 Naturhörner / [3 Trompeten / Saint-Saëns hat sie in seiner Aufzählung vergessen.] 2 chromatische Hörner / 3 Posaunen / 1 Tuba / 3 Pauken / Orgel / 1 vierhändig gespieltes Klavier und die Streicher, natürlich. Glücklicherweise gibt es keine Harfen. Unglücklicherweise wird sie schwer sein. Ich tue was ich kann, um die Schwierigkeiten abzumildern.
Wie in meinem 4. Konzert [für Klavier] und meiner [1.] Violinsonate [d-Moll op. 75] gibt es auf den ersten Blick nur zwei Teile: das erste Allegro und das Adagio, das Scherzo und das Finale, jeweils attacca.
Diese verteufelte Symphonie ist einen Halbton nach oben gerutscht; sie wollte nicht in h-Moll bleiben und steht jetzt in c-Moll.
Es wird mir ein Fest sein, diese Symphonie zu dirigieren. Ob es für die anderen ein Fest sein wird, sie zu hören? That is the question. Sie haben es so gewollt, ich wasche meine Hände in Unschuld.
Ich werde die sorgfältig korrigierten Stimmen mitbringen, und wenn ich außer der Generalprobe eine weitere gute Probe bekomme, wird alles gut gehen.“
Wann Saint-Saëns die Idee gefasst hat, der üblichen Orchesterbesetzung eine Orgel und ein Klavier hinzuzufügen, wissen wir nicht. Der Gedanke, einem profanen, für den Konzertsaal bestimmten Orchesterwerk einen Orgelpart hinzuzufügen, war durchaus originell – und nicht unumstritten. Andererseits hatte gerade Franz Liszt, dem die Symphonie von Saint-Saëns so nahesteht, in seiner Symphonischen Dichtung Hunnenschlacht (1856/57) den Beweis erbracht, dass die Orgel ohne Weiteres als Orchesterinstrument bestehen konnte. Auch für den vierhändigen Klavierpart gab es ein Vorbild, das Saint-Saëns gekannt und möglicherweise ganz bewusst als Modell benutzt haben dürfte: Die „Fantaisie sur la Tempête“ aus dem lyrischen Monodram Lélio, ou le retour à la Vie op. 14bis (1831) von Berlioz. Der Name des Organisten der Uraufführung ist unbekannt, was übrigens auch für viele spätere Aufführungen gilt; der Orgelpart ist ja nicht solistisch, sondern als Teil des Orchesters zu verstehen.
Tatsächlich scheint der anschließende Erfolg der Symphonie für den damals immerhin schon über 50-jährigen Komponisten eine Art Durchbruch bedeutet zu haben. „Mein lieber Autor einer famosen Symphonie“, schrieb Saint-Saëns’ Freund und Schüler Gabriel Fauré: „Du kannst dir nie und nimmer vorstellen, was für einen Genuss ich letzten Sonntag [bei der zweiten Aufführung am 16. Januar 1887] gehabt habe! Und ich hatte ja die Partitur und habe keine Note dieser Symphonie verpasst, die sehr viel länger leben wird als wir beide, selbst wenn wir unsere Lebensjahre aneinanderhängen würden!“
80 Jahre Schaffenskraft
Die Edition der 3. Symphonie ist der Anfang eines großen Projekts: Mit ihr beginnt der Bärenreiter-Verlag seine 36-bändige, historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Instrumentalwerke des französischen Komponisten.
Das kompositorische Œuvre, das Saint-Saëns in seinem langen Leben schuf, umfasst neben Opern und Bühnenmusiken, Oratorien und kleineren Kirchenwerken, Kantaten, weltlichen Chorwerken und Liedern mehr als 300 Instrumentalwerke. Seine erste Komposition, ein Klavierstück in C-Dur, notierte er (eigenhändig) am 22. März 1839, im Alter von knapp dreieinhalb Jahren; seine letzte Partitur, die Orchesterfassung seiner Valse nonchalante op. 110, beendete er 86-jährig am 13. Dezember 1921, drei Tage vor seinem Tod. Es dürfte wohl kaum einen anderen bedeutenden Komponisten geben, dessen Schaffen sich über einen ähnlich langen Zeitraum erstreckt und das eine vergleichbare Vielfalt aufzuweisen hat.
Das Anliegen der Edition ist es, sämtliche relevanten, zu Lebzeiten des Komponisten entstandenen Primär- und Sekundärquellen zu identifizieren, zu sichten und zu gewichten, um nach einem Abgleich aller (in ausführlichen Revisionsberichten verzeichneten) Abweichungen eine zuverlässige Lesart des Notentextes zu erstellen, die den Intentionen des Komponisten so nahe wie möglich kommt. Die meisten der Werke wurden seit ihren (zeitbedingt oft fehlerhaften) Erstausgaben nicht mehr neu ediert, und mehrere Dutzend Kompositionen liegen allein in Manuskriptform vor: Alternativfassungen, Juvenilia, Fragmente, Albumblätter aus privaten Sammlungen, eigene Bearbeitungen oder Arrangements etc. Nach heutigem Kenntnisstand geht es dabei um rund 325 Kompositionen, die in den Œuvres instrumentales complètes erstmals als Ganzes erschlossen und in vier Serien veröffentlicht werden:
I. Œuvres symphoniques / Symphonische Werke
(10 Bände)
II. Œuvres concertantes / Konzertante Werke (8 Bände)
III. Musique de chambre / Kammermusik (9 Bände)
IV. Œuvres pour piano, orgue & harmonium / Werke für Klavier, Orgel & Harmonium (9 Bände)
Geplant ist, dass jeweils drei Bände im Zeitraum von zwei Jahren erscheinen.
Michael Stegemann
(aus [t]akte 2/2016)