Artemisia aus dem Jahr 1657 ist ein Bühnenwerk, prallvoll mit äußerer und innerer Handlung. Die Neuausgabe im Rahmen der Cavalli-Edition bietet vielfältiges Material für eine Aufführung auf der Basis quellenkundlicher Erkenntnisse.
Die Oper Artemisia des Komponisten Francesco Cavalli wurde 1657 in Venedig erstmals aufgeführt, zu einer Zeit, als sich der regelmäßige Opernbetrieb mit acht bis zehn neuen Opern pro Jahr fest etabliert und eingespielt hatte. Dennoch ist die Oper nichts weniger als schematisch; im Gegenteil, wie die zahlreichen Veränderungen und Korrekturen in der Originalpartitur verraten, war es Cavalli und dem Librettisten Nicolò Minato sehr daran gelegen, neue Wege in der dramatischen und musikalischen Erzählung zu gehen. So präsentiert sich Artemisia auch im Vergleich mit anderen venezianischen Opern des 17. Jahrhunderts als frisch und abwechslungsreich. Insbesondere mit der Integration der komischen Nebenhandlung in die einfühlsam-ernste Haupthandlung gelingt es Minato und Cavalli, nicht weniger als sechs Protagonisten als denkende, handelnde und fühlende Wesen individuell und anrührend darzustellen.
Artemisia – eine Figur, die von der historischen Artemisia I. von Karien (ca. 480 v. Chr.) inspiriert ist – ist eine Königin, die durch die gesellschaftlichen Zwänge ihrer Stellung ihre persönlichen Gefühle maskieren muss, was sie in extreme innere Konflikte stürzt. Im Laufe der Opernhandlung lernt sie dann, ihren Emotionen mehr zu vertrauen und gewinnt damit ihre persönliche Freiheit zurück – ein anrührender psychologischer Wandel, der auch für ein modernes Publikum unmittelbar nachzuvollziehen ist. Dabei handelt es sich bei der Oper um alles andere als ein lediglich psychologisierendes inneres Drama; sie enthält auch viel unterhaltsame Handlung, etwa den Auftritt eines Gespenstes, ein Duell, Erpressungsversuche, erfolgreiches und missglücktes Liebeswerben, Kriegserklärungen und Friedensschlüsse sowie eine komische Nebenhandlung im Dienermilieu, die an die Streiche von Max und Moritz erinnert.
Cavalli ließ sich von diesem Drama zu einer äußerst lebendigen und mitreißenden musikalischen Umsetzung inspirieren, mit einigen Arien, die wirkliche musikalische Glanzlichter bilden. Der Komponist zeigt sich dabei auf dem Gipfel seiner dramatischen Kunst – er präsentiert die Handlung mit allen ihren emotionalen Momenten auf spannende, schöne, abwechslungsreiche und zugleich witzige Art und Weise, stets Emotion und Aktion in der Musik verbindend. In dem ihm eigenen äußerst melodischen Rezitativstil erzählt er die Geschichte, so dass man als heutiger Zuhörer immer noch das Gefühl hat, den Erlebnissen echter Menschen beizuwohnen.
Die neue Edition der Oper Artemisia ist gleichermaßen für Aufführungen und zu Studienzwecken geeignet. Sie basiert auf Cavallis handschriftlicher Partitur, die dem Komponisten zu seinen eigenen Aufführungen der Oper als Grundlage gedient hat, und die darum viele Informationen zur Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts enthält – sie ermöglicht gewissermaßen den Blick auf die Oper aus der Perspektive von Cavallis eigenem Pult im Orchestergraben. Diese Erkenntnisse sind in die Edition eingeflossen und werden in einem umfangreichen, dabei übersichtlichen Apparat aufbereitet. Für eine moderne Aufführung bietet die Edition darüber hinaus vielfältige Vorschläge und Material, um die Oper flexibel den jeweiligen Aufführungsumständen anpassen zu können. So liegt mit Artemisia die Ausgabe einer Barockoper vor, die die bekannten Qualitäten der Musik Francesco Cavallis mit einer hinreißenden Handlung verbindet, und die sich in vielfältiger Form einem modernen Publikum präsentieren lässt.
Hendrik Schulze
(aus [t]akte 2/2013)