„Rinaldo“, „Ottone“, „Jephtha“ und „Occasional Oratorio“: Zwei Opern und zwei Chorwerke Händels stehen vor prominenten Aufführungen, alle erstmals nach dem Urtext der Gesamtausgabe.
Für den Herausgeber einer Oper oder eines Oratoriums Händels gehört das Verstehen der Quellen zum umfassenden Rekonstruktionsverfahren der verschiedenen Phasen, die die „Komposition“ des Werkes bildeten – von den ersten Skizzen über die Vorbereitungen für die Erstaufführung bis hin zu nachträglichen Veränderungen im Verlauf von Händels Aufführungen des Werkes, ob in den frühen Stadien oder für Wiederaufnahmen viele Jahre später. Die meisten der großen Werke haben demzufolge mehrere verschiedene authentische Gestalten, und die heutigen Bände der Hallischen Händel-Ausgabe (HHA) wollen nicht nur die gesamte für das Werk relevante Musik abbilden, sondern auch zeigen, wie sich die Sätze eines Werks in die unterschiedlichen zur Aufführung gebrachten Fassungen Händels einfügen. Große Fortschritte in diesem Verständnis wurden seit den 1980er Jahren gemacht. Bernd Baselts thematisch-systematisches Verzeichnis in den Bänden 1 bis 3 des Händel-Handbuchs (1978–1986) bietet eine Basis, und die Geschichte einzelner Werke wurde von Winton Dean in seinen maßgebenden Studien zu Händels Oratorien und Opern detailliert untersucht – einem Projekt, das über 47 Jahre dauerte und in der Publikation Handel’s Operas 1726–1741 (2006) gipfelte. Dennoch muss jeder Herausgeber das jeweilige Werk erneut genau betrachten, so dass bei der Vorbereitung eines jeden Bandes für einzelne Werke neue Entdeckungen gemacht und Umarbeitungen gefunden werden. Die Vorworte der neuesten HHA-Bände enthalten die aktuellste Beschreibung der Geschichte eines jeden Werkes in der Handschrift des Komponisten, so dass diese einen Ansatzpunkt für heutige Ausführende liefern. Die Partituren selbst präsentieren die verschiedenen Fassungen auf eine Weise, die von Ausführenden und von jedem, der sich für das entsprechende Werk interessiert, verstanden werden kann. Händels Änderungen waren oftmals derart beträchtlich, dass eine Oper oder ein Oratorium zwei oder mehr deutlich unterschiedliche Fassungen besitzt – beinahe zwei verschiedene Werke.
Thunder and Lightening: „Rinaldo“
Ein besonders interessantes Beispiel hierfür stellt die Oper Rinaldo dar. Sie war Händels erste Oper für London und wurde im Februar 1711 im Theater am Haymarket uraufgeführt. Sowohl hinsichtlich der Musik (einschließlich neukomponierter Fassungen einiger Sätze, die Händel ursprünglich für seine Opern in Italien geschrieben hatte) als auch hinsichtlich der Inszenierung war sie sehr überzeugend; ein Zeitgenosse beschrieb die Oper als „filled with Thunder and Lightening, Illuminations and Fireworks“. Zwanzig Jahre später bot sich Händel die Gelegenheit, die Oper erneut aufzuführen. Vielleicht wurden einige der ursprünglichen Bühneneffekte wieder gezeigt, die musikalischen Gegebenheiten waren jedoch andere. Die Besetzung der Sänger sah keinen der einstigen Solisten vor, dafür sangen aber der Kastrat Senesino und die Sopranistin Anna Strada, und Händels eigener musikalischer Stil hatte sich über die „Musik des jungen Mannes“ der Originalpartitur hinausentwickelt. David Kimbell, der Herausgeber des HHA-Bandes, fasste die Änderungen für die Fassung von 1731 folgendermaßen zusammen:
Von den über 40 Musiknummern des ursprünglichen Rinaldo wurde ungefähr ein Viertel im Wesentlichen unverändert übernommen; ein Viertel wurde transponiert, um anderen Stimmlagen zu entsprechen; ein Viertel wurde substantiell verändert oder durch Zuweisung an andere Charaktere in der Wirkung umfunktioniert; ein Viertel wurde völlig weggelassen.
Um die „verlorene“ Musik zu ersetzen, fügte Händel Arien aus einigen seiner neueren Opern (beispielsweise aus Lotario) ein, die zwar zum dramatischen Geschehen passten, aber seinen gegenwärtigen Musikstil auswiesen. Das Resultat ergab also eine neue Opernpartitur, im Charakter anders als die erste Fassung und würdig einer eigenständigen Wiederaufführung.
Voller schöner Arien: „Ottone“
Ottone ist eine weitere Oper mit einer komplexen Geschichte. Sie wurde im Sommer 1722 komponiert und vor der Erstaufführung im Januar 1733 grundlegend überarbeitet, wie es die Herausgeberin Fiona McLaughlan beschreibt: „Insgesamt strich Händel … elf Arien und ein Duett, einen Satz der Ouvertüre und eine Sinfonia – entsprechend der Anzahl der geschlossenen Musiksätze eines ganzen Aktes zudem mindestens sechs Teile und Fragmente von Musiksätzen.“
Ein großer Teil dieser Umarbeitung betraf die Musik für die Figuren der Teofane, der ersten Rolle in London für die Sopranistin Francesca Cuzzoni, und der Matilda: für letztere offenbaren Briefe der Sängerin Anastasia Robinson Verhandlungen über die Charakterisierung ihrer Rolle. Weitere große Änderungen wurden für verschiedene Aufführungen in den Jahren 1723–1724, 1726, 1727 und 1733 vorgenommen. Ottone hat eine umfangreiche und ziemlich komplizierte Handlung, die auf Ereignissen des 10. Jahrhunderts basiert, als „deutsche“ Könige territoriale Macht in Italien besaßen. Das Libretto jedoch inspirierte Händel dazu, einige der schönsten Arien aus seinen Opern der 1720er Jahre zu schreiben, von denen etliche im England des 18. Jahrhunderts als Konzertbeiträge beliebt blieben, lange nachdem die Oper selbst vergessen worden war.
Händels letztes Oratorium: „Jephtha“
Während Händels italienische Opern nach seinem Tod für mehr als ein Jahrhundert aus dem Theater verschwanden, erfreuten sich seine englischen Oratorien einer beständigeren Aufführungsgeschichte, einerseits weil sie nicht so sehr von Kastraten für die männlichen Hauptrollen abhingen, andererseits durch die Herausbildung von Laienchören im 19. Jahrhundert. Auch wenn Jephtha nicht so oft gespielt wurde wie Messiah, Israel in Egypt und Judas Maccabaeus, blieb das Werk mit gelegentlichen Aufführungen dennoch im Repertoire und besonders aufgrund der starken Rolle des Jephtha für einen Tenorsolisten in Erinnerung. Jephthas Arie „Waft her, angels, through the skies“ wurde ebenfalls eine beliebte Konzertnummer. Jephtha wurde zudem für Händels Biografie als bedeutend erkannt, nicht nur weil es sein letztes Oratorium war, sondern auch, weil die Partitur vollendet wurde, als sich das Augenlicht des Komponisten verschlechterte. Es ist traurige Ironie, dass aus diesem Grund die Komposition während der Ausarbeitung des gewaltigen Chores „How dark, O Lord, are thy decrees“ unterbrochen werden musste. Es kommt einem Triumph gleich, dass es Händel trotzdem gelang, das restliche Oratorium erfolgreich zu vollenden. Insgesamt ist Jephtha ein großartiges Musikdrama, dessen Partitur die musikalische Erfahrung des Komponisten aus einem halben Jahrhundert widerspiegelt: Das Ende ist ernst im Ton, aber nicht völlig tragisch in der Stimmung. Es mag erwartet werden, dass Händels letztes Oratorium hinsichtlich der Komposition und Wiederaufnahmen eine unkomplizierte Geschichte hat, doch es ließ einige interessante Ungereimtheiten offen, die der Herausgeber bei seiner Edition der HHA-Partitur zu lösen hatte.
Ausgedehntes Anthem: „Occasional Oratorio“
Das Occasional Oratorio brachte Händel von allen seinen englischen Oratorien am wenigsten zur Aufführung (insgesamt sechsmal in den Jahren 1746–1747) und es war seitdem mit ziemlicher Sicherheit das am seltensten gespielte. Die geringe Zahl von Aufführungen erklärt sich wahrscheinlich aus dem Wesen der „Occasion“: Das Oratorium wurde zu einer Zeit komponiert und erstaufgeführt, als London von dem Einmarsch der Jakobiten bedroht wurde, weshalb es ziemlich stark an aktuelle Ereignisse gebunden war. Die Begrenzung seiner Wiederaufführungen könnte durch den Umstand bedingt gewesen sein, dass im dritten Akt Musik aus Israel in Egypt wiederverwendet wird, aber noch bedeutsamer könnte die schwierige Zugänglichkeit von Aufführungsmaterial gewesen sein: Es war das einzige aus der Reihe von Händels Oratorien, dass im England des 19. Jahrhunderts nie als Klavierauszug veröffentlicht wurde. Das Occasional Oratorio war Händels Beitrag, die Kampfmoral des Londons seiner Zeit zu stärken; es muss ihm sehr bewusst gewesen sein, dass der Ausgang des zweiten Jakobitenaufstands von 1745 ernstere europäische Fragen nach sich ziehen würde als ein lokaler britischer Konflikt. Das Thema des Oratoriums ist der Sieg der Rechtschaffenden, doch selber hat es keinen Sieg errungen: Er folgte später mit Judas Maccabaeus, nachdem die Jakobiten besiegt worden waren. Heutige Aufführungen haben gezeigt, dass, auch wenn es mehr den Charakter eines ausgedehnten Anthems als eines konventionellen Dramas hat, das Occasional Oratorio ein stimmiges Werk ist, dem ein gebührender Platz im
Händel-Kanon zusteht und das auf eine Weise von menschlicher Erfahrung handelt, die über seinen ursprünglichen Kontext hinausreicht.
Donald Burrows
(Übersetzung: Teresa Ramer-Wünsche)