Händels größere Kantaten und Oratorien werden 32 Bände in der Hallischen Händel-Ausgabe (Serie I) füllen – ein Werkbestand, der fasziniert. Für viele Werke sind Klavierauszüge und Aufführungsmaterial verfügbar.
Seit 1955 erscheint die Hallische Händel-Ausgabe (HHA), herausgegeben im Auftrag der Internationalen Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft im Bärenreiter-Verlag. Inzwischen ist der größte Teil der Werke Händels innerhalb der HHA verfügbar, wodurch für Praxis und Wissenschaft eine verlässliche Basis für die Beschäftigung mit Händel entstanden ist. Neben der Veröffentlichung von meist drei neuen Bänden im Jahr überarbeitet Bärenreiter, oft gemeinsam mit der Redaktion der HHA, auch bereits erschienene ältere Ausgaben und deren Aufführungsmateriale.
Die Oratorien und größeren Kantaten werden nach Abschluss der Gesamtausgabe 32 Bände umfassen. Hier hat Bärenreiter in den vergangenen Jahren verstärkt investiert und neben der regelmäßigen Publikation von Neuausgaben teils jahrzehnte-lang vergriffene Bände wieder verfügbar gemacht und dabei den Notentext inhaltlich und optisch aktualisiert. So konnten für die dritte Auflage des Saul (HWV 53) – 1739 von Händel als eines seiner ersten großen englischen Oratorien uraufgeführt und 1962 von Percy M. Young ebenfalls als einer der ersten HHA-Bände herausgeben – Forschungsergebnisse von Anthony Hicks sowie seinerzeit nur ungenügend berücksichtigte Quellen einbezogen werden; die von Händel für die Uraufführung verwendete sogenannte Direktionspartitur enthält eine Fülle an vom Kompositionsautograph abweichenden Details, zum Beispiel die ursprünglich nicht vorgesehene solistische Verwendung der Orgel in der einleitenden Symphony, die nun Eingang in die HHA gefunden haben. Für die dritte Auflage hat Bärenreiter den Band vollständig neu gesetzt, ebenso das Aufführungsmaterial und den Klavierauszug, dessen Arrangement ebenfalls verbessert wurde.
Zur Serie der Oratorien und größeren Kantaten zählen auch die Ode for the Birthday of Queen Anne (HWV 74), L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato (HWV 55) und The Choice of Hercules (HWV 69). Gleichfalls frühzeitig in der HHA erschienen (1962, 1965, 1963), erfreuen sich diese teils recht kurzen (Ode, Choice of Hercules) Werke für Solisten, Chor und Orchester großer Beliebtheit. Sie entstanden zum einen in Händels frühen (Ode), zum anderen in seinen späten Londoner Jahren (L’Allegro, Choice of Hercules). Nachdem die Partituren im Rahmen der HHA mehrere Jahre lang vergriffen gewesen waren, sind sie inzwischen als zweite, durchgesehene Nachauflagen wieder erhältlich. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls das bekannte Alexander’s Feast (HWV 75) zu nennen. Der seit 1957 in zahlreichen Auflagen erschienene Klavierauszug von Konrad Ameln wurde neu gesetzt, dabei einer gründlichen Korrektur unterzogen, bezogen u. a. auf Händels originale Dynamik, und um die Anhänge der Partitur erweitert; die gleichen Anpassungen wurden für das Aufführungsmaterial vorgenommen.
Neben Opern und Kirchenmusik erschienen als Neuausgaben zuletzt zwei bedeutende Oratorien Händels in der HHA: Samson (HWV 57) und Solomon (HWV 67), jeweils mit zusätzlichem Klavierauszug und Aufführungsmaterial. Herausgeber beider Editionen ist Hans Dieter Clausen. Mit ihren alttestamentarischen Sujets zu zwei imponierenden Gestalten – dem durch seine Stärke einst unbezwingbaren Israeliten Samson sowie dem israelitischen Herrscher Salomo – ragen beide Oratorien aus dem Schaffen Händels heraus. Vertont wurden nicht etwa die Lebensgeschichten der Titelfiguren, sondern der nachhaltigen Charakterisierung dienende Episoden daraus.
Das umfangreich besetzte Oratorium Samson entstand 1741, als Händel in London die regelmäßige Produktion seiner Oratorien zu etablieren begann (vgl. auch [t]akte 1/2012). Die Handlung setzt ein, als der früher unbezwingbare Kämpfer bereits von den Philistern gefangen in Ketten liegt. Während der Gefangenschaft führt Samson drei von Händel großformatig angelegte, jedoch eher privat geführte Dialoge – mit der ihn verratenden Dalila, seinem vorwurfsvollen Vater und dem hämischen Harapha, einem riesigen Kämpfer aus den Reihen der Philister. Umrahmt bzw. ergänzt werden diese Szenen durch zum Teil üppig besetzte Chöre, denen Händel alternierend sowohl die Rolle der Israeliten wie der Philister zuteilt. Das alttestamentliche Geschehen wird somit nicht wie in den epischen Oratorien Israel in Egypt (HWV 54) und Messiah (HWV 56) mittels erzählendem Bibeltext wiedergegeben, sondern in frei gedichteter, die Personen charakterisierender Rede und Widerrede, also dramatisch, dargestellt. Als literarische Vorlage hatte Händel das Drama Samson Agonistes von John Milton gewählt. Samsons tragischer Tod – indem er den Philister-Tempel zum Einsturz bringt, kommt der Held selbst um – ist Teil des Dramas und war ursprünglich auch von Händel als Kulmination seines Oratoriums vorgesehen und kompositorisch bereits ausgeführt. Für die Uraufführung färbte er den Schluss des Oratoriums jedoch versöhnlicher. Neben der Edition der Uraufführungsfassung hat Hans Dieter Clausen den Ablauf dieser „Urfassung“ rekonstruiert und bislang unveröffentlichte Musikstücke verfügbar gemacht, die erstmals eine vollständige Aufführung dieser Fassung ermöglichen. Zudem bietet die Ausgabe fundierte Informationen über nicht weniger als neun weitere unter Händels Beteiligung aufgeführte Fassungen, die letzte aus seinem Todesjahr 1759.
Das 1749 uraufgeführte Oratorium Solomon erscheint in seiner außerordentlich großen Besetzung und seinem überbordenden Reichtum an musikalischen Ideen wohl noch bedeutender (vgl. auch [t]akte 1/2014). Es gibt keine Rahmenhandlung. Jeder der drei Akte ist einem anderen Thema aus dem Leben des israelitischen Königs gewidmet: der Beziehung Salomos zu seiner Frau, dem Salomonischen Urteil sowie dem Staatsbesuch von Nikaule, Königin von Saba. Als ein dramatisch-musikalischer Höhepunkt gilt dabei der Streit zweier Mütter um ein Kind, in dem Händel zunächst die verschiedenen Charaktere und deren Position einführt und diese Episode in einem groß angelegten Terzett kulminieren lässt, in welchem er die verschiedenen Ansichten gegenüberstellt und musikalisch verbindet. Auch in diesem Werk rahmen monumentale Chöre das Geschehen ein, wobei Händel offenbar genügend Kräfte für Doppelchörigkeit zur Verfügung hatte, die er sowohl in traditionell polyphoner Weise, als auch nach homophon alternierendem Prinzip gestaltete. Darüber hinaus setzte er zusätzliche Ripieno-Stimmen in den Streichern ein. Hans Dieter Clausens Edition bietet neben der Fassung der Uraufführung auch wieder die Versionen späterer Wiederaufnahmen, darunter eine kürzere Fassung, welche den ersten Akt ausspart. Besonders interessant ist die erstmals wiedergegebene vollständige Fassung des Schlusschores des zweiten Aktes („Swell the full chorus“), den Händel noch vor der Uraufführung um drei Viertel seines ursprünglichen Umfangs kürzte.
Tobias Gebauer