Händels zweite Oper für die Royal Academy of Music birgt den Konflikt zwischen staatlicher Willkür und persönlicher Ehre. In Halle nähert man sich auf der Basis des Bandes der Hallischen Händel-Ausgabe nun wieder ihrer anfänglichen Konzeption.
Opern der Aufklärung enden glücklich: In ihren Schlusstableaus mit vereinigten Liebespaaren und einem bekehrten Bösewicht (auf dessen Bassstimme man im Schlusschor auch ungern verzichtet hätte) spiegelt sich die „bestmögliche aller Welten”. Händels Oper Floridante aber beginnt bereits mit einem Happy End: Persien hat Thyros besiegt. Der Kommandeur der persischen Flotte, der thrakische Fürst Floridante, darf nun die versprochene Siegesprämie, Elmira, die Tochter des Königs Oronte, in seine Arme schließen. Sogar Timante, der besiegte und gefangene Kronprinz von Thyros, ist glücklich: Vor Ausbruch des Krieges war er Rossane, der Schwester Elmiras verlobt worden. Nun kann er ihr wenigstens inkognito nahe sein. Da trifft ein Schreiben des Königs alle Beteiligten und den Zuschauer wie ein Schlag: Er entzieht Floridante den Oberbefehl und verweist ihn des Landes. Keiner versteht Orontes Motive, bis er selbst der Tochter seinen Plan enthüllt: Er will sie heiraten. Für wenige Rezitativtakte glauben wir an Inzest. Aber Orontes Pläne sind politischer Natur: Vor Jahren hatte er die Herrschaft über Persien an sich gerissen. Von der Königsfamilie war nur ein Kleinkind am Leben geblieben: Unter dem Namen Elmira hatte er das Mädchen als seine Tochter ausgegeben. Nun möchte er durch die Heirat seine Herrschaft nachträglich legitimieren und die Anhänger der alten Dynastie für sich gewinnen. Doch statt des erwarteten Danks für ihre Rettung stößt er bei Elmira nur auf Hass und Abscheu. Machiavellischer Staatsopportunismus trifft auf einen Wertekodex, in dem Liebe, Treue und Ehre absolute Geltung besitzen. Damit ist der Konflikt umrissen, in dessen Verlauf Fluchtpläne, Zweikämpfe, ein Giftbecher, eine Gefängnisszene und eine Revolution draußen vor der Türe ihre aus der Barockoper wohlbekannte Rolle spielen.
Auch für Händel hatte 1720 die dreijährige opernlose Zeit in London ein Happy End: Unterstützt von König Georg I., der schon als hannoverscher Kurfürst sein Arbeitgeber gewesen war, stand er an der Spitze der neu gegründeten Royal Academy of Music, für die er in Italien und Deutschland ein erstklassiges, nahezu rein italienisches Ensemble zusammengestellt hatte.
Doch schon bald gab es Spannungen: Im Direktorium der Oper gewannen konservative Adelskreise die Oberhand, die dem „deutschen” König reserviert gegenüberstanden und mit dem im Exil lebenden katholischen Thronprätendenten sympathisierten. Als Hauskomponist bekam Händel in Giovanni Bononcini einen Konkurrenten, der es verstand, das Publikum mit leichteren, liedhaften und tänzerischen Arien zu gewinnen, und in Paolo Rolli, dem italienischen Sekretär der Oper, einen eitlen, intriganten und wenig bühnenerfahrenen Librettisten: eine Situation mit Konfliktpotenzial.
Von Konflikten ist nichts nach außen gedrungen. Sie begannen aber spätestens, als während der Komposition des Floridante Händels Favoritin für die Rolle der Elmira, Margherita Durastanti, nach dem Sommerurlaub wegen Krankheit nicht nach London zurückkehrte und die Direktoren durchsetzten, dass die Geliebte des Earl of Peterborough und Schülerin Bononcinis, Anastasia Robinson, zur Prima Donna avancierte. Wenn Rollen neu besetzt wurden, war es normal, dass neue Arien komponiert wurden, die auf die Fähigkeiten und Vorlieben der Sänger zugeschnitten waren. Händel aber ließ sich auf so etwas nur dann ein, wenn es seinem Rollenkonzept nicht zuwiderlief. Im Fall der Elmira, der wichtigsten Rolle der Oper, war er nicht zu Kompromissen bereit. Aber die Robinson hatte eine tiefere Stimme und einen geringeren Stimmumfang. Er musste die bereits komponierten Arien nicht nur transponieren, sondern auch in ihrem Ambitus beschneiden, eine Prozedur, die nicht ohne Einbuße an Qualität möglich war.
Händel gewann in der nächsten Spielzeit wieder an Gunst und Einfluss, wobei ihm die politische Entwicklung half: Aus unterschiedlichen Gründen, nicht zuletzt wegen ihrer Nähe zu den Anstiftern eines jakobitischen Komplotts, fielen Bononcini und Rolli in Ungnade. Zusammen mit seinem bewährten Textbearbeiter Nicola Haym konnte Händel jetzt seine großen Meisteropern Giulio Cesare, Tamerlano und Rodelinda schaffen.
Auch Floridante zeigt Züge dieser Meisterschaft, litt aber zu Händels Lebzeiten und leidet bis heute unter den Auswirkungen ihrer ungünstigen Entstehungsbedingungen. Wer diese Oper aufführen will, kommt nicht umhin, sich mit Händels ursprünglicher Konzeption zu beschäftigen. Seit dem Erscheinen der Oper in der Hallischen Händel-Ausgabe sind dafür die Voraussetzungen gegeben. Der Erfolg von Alan Curtis’ Einspielung, einem Versuch, Händels Ideal nahezukommen, hat gezeigt, dass sich Floridante unter Händels Opern behaupten kann. Während der Hallischen Händel-Festspiele im Juni 2009 wird die Oper zum ersten Mal nach der neuen Ausgabe auf die Bühne gebracht werden.
Hans Dieter Clausen
aus: [t]akte 1/2009