Oper mit politischer Zielrichtung
Mitten in Glucks „Wandertruppenjahre” (1746–1752) fiel ein Ereignis, das seinen weiteren Lebensweg entscheidend bestimmt hat: sein Debut als Opernkomponist in Wien. Das Datum: 14. Mai 1748. Tags zuvor hatte man den Geburtstag der jungen Kaiserin Maria Theresia gefeiert. Eine Festaufführung also, für die das „k. k. Hoftheater nächst der Burg” aufwendig renoviert worden war. Und man hatte für die Festoper weder bei der Ausstattung – Bühnenbild, Kostüme, Requisiten – noch bei der Verpflichtung der mitwirkenden Künstler gespart, man hatte „die besten Stimmen, so man finden können, zusammen gesucht“ und aus Italien „die ihrer Action halber sehr renomirte Tesi mit noch einigen anderen Virtuosen zu der Orchestre” engagiert. Vier der sechs beteiligten Solisten hatten bereits in Italien oder London unter Glucks Leitung in seinen Opern gesungen, ein bewährtes „Gluck-Ensemble” also.
Für den dreiunddreißigjährigen Gluck bedeutete der Kompositionsauftrag aus der Kaiserstadt Ehre und Herausforderung zugleich. Die Wahl des Librettos der Festoper hatte ganz im Zeichen des Geburtstages der Kaiserin gestanden. Metastasios Dramma per Musica La Semiramide riconosciuta hatte man mit Bedacht bereits bei der Kaiserkrönung Maria Theresias 1743 in Prag als Festoper in Szene gesetzt, in Anspielung auf die „Pragmatische Sanktion” (die weibliche Erbfolge im Haus Habsburg). Jetzt, im Frühjahr 1748, hatte Metastasios Dramenhandlung um die in Männerkleidung als „König Ninus” in Babylon regierende Semiramis noch deutlicher, ja hochaktuell Bezug zur politischen Situation: Bei den gleichzeitig stattfindenden Friedensverhandlungen in Aachen ging es um die Anerkennung Maria Theresias als Kaiserin durch die europäischen Mächte, insbesondere durch Frankreich und Preußen. Kenner dieser brisant-problematischen Situation wussten sehr wohl um die Doppelbedeutung des gewählten Operntitels: „riconosciuta” kann sowohl „wiedererkannt“ als auch „anerkannt” bedeuten.
Die im Libretto abgedruckte Vorgeschichte und die Handlung der Oper sind vielfältig und verwickelt konstruiert. Getrennte Geschwister, alte Freunde, Rivalen und Intriganten begegnen sich – anfangs unerkannt – nach langer Zeit am Hof des babylonischen Königs Ninus (alias Semiramide) wieder, als die am Hof lebende Prinzessin Tamiri aus den herbeigeeilten Freiern einen Gatten wählen soll. Der Königspalast, die legendären Hängenden Gärten der Semiramis und ein malerisches Hafenambiente bilden die Szenerie. Die aus Afrika, Asien und dem Vorderen Orient stammenden Protagonisten verschiedenster Wesensart sorgen mit ihrem Gefolge für ein farbiges Erscheinungsbild. Bis zur Entwirrung des Knotens kommt es zu Zweikampf, Entführung und einem Giftbecher.
Gerhard Croll
Alle Kräfte im Blick
Durch den geschickten Einsatz solistischer Instrumente, eine Bühnenmusik „d‘istromenti barbari”, durch eine Tanzszene, den Chor am Schluss der Oper wusste Gluck reichlich klangliche Abwechslung zu schaffen. Interessanterweise ist die Hauptrolle der Semiramis eine relativ tief gelagerte Altpartie. Dem Typus der virtuosen Kastratenpartie entspricht am ehesten die Rolle des Scitalce (Sopran), jene des Ircano zeichnet einen energischen Charakter. Die Tenorpartie des Mirteo bevorzugt gemäßigte Tempi und ist ebenso lyrisch angelegt wie jene der heftig umworbenen Tamiri. Pietro Metastasios Bemerkung – „una musica arcivandalica insopportabile” – dürfte sich auf manche vom italienischen Geschmack abweichende Wendung der Melodik und auf Kühnheiten der Orchesterbehandlung bezogen haben; Gluck beschränkte sich weder auf geschmeidige Koloraturen noch auf einen gefälligen Orchestersatz. Er ließ das Orchestervorspiel zu einigen Arien weg und verzichtete mitunter auf die Da-capo-Form. Weit vorausblickend, hatte er das Zusammenwirken aller theatralischen Kräfte im Blick, und ließ die engen Grenzen der italienisch-virtuosen Gesangsoper hinter sich: „Semiramide va alle stelle”, musste selbst der kritische Metastasio nach dem Erfolg der Oper eingestehen.
Thomas Hauschka
„La Semiramide riconosciuta”. Glucks erste Oper für Wien
Christoph Willibald Gluck
La Semiramide riconosciuta. Dramma per musica in drei Akten. Libretto von Pietro Metastasio
Hrsg. von Gerhard Croll und Thomas Hauschka
Sämtliche Werke, Band III/12. Bärenreiter-Verlag
Aufführungsmaterial leihweise
16.10.2008: Staatstheater Mainz, Musikalische Leitung: Michael Millard, Inszenierung, Bühne und Kostüme: Peer Boysen
Besetzung: Semiramide (Alt), Mirteo (Tenor), Ircano (Sopran), Scitalce (Sopran), Tamiri (Sopran), Sibari (Sopran)
Orchester: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte – 2 Hörner, 2 Trompeten – Pauken – Streicher – Cembalo – Bühnenmusik „istromenti barbari“