Die 4. Symphonie und das Epic of Gilgamesh: Mit zwei Bänden beginnt The Bohuslav Martinů Complete Edition, die es sich zum Ziel setzt, die verstreuten Werke des tschechischen Komponisten in mustergültigen Editionen zugänglich zu machen.
Wie viele Künstlerbiographien des 20. Jahrhunderts ist der Lebenslauf Bohuslav Martinůs von mehreren Umzügen gezeichnet. Auch deshalb sind viele seiner Werke nur in unzulänglichen, mehr als fünfzig Jahre alten Erstausgaben greifbar, von denen etliche nichtautorisierte Eingriffe enthalten. Manche frühe Ausgaben wurden jahrzehntelang nicht nachgedruckt, so dass sie für Wissenschaft und Praxis weitgehend unzugänglich blieben. Einige Partituren wurden nie gesetzt, die Verlage verbreiten sie in Abschriften oder gar als Reproduktionen der schlecht leserlichen Autographen. Und auch die Quellenlage der Werke ist disparat, die relevanten Dokumente werden in zahlreichen privaten und öffentlichen Archiven und Institutionen aufbewahrt. Eine Gesamtausgabe ist also ein lange überfälliges Projekt. Seit 1994 wird die Bohuslav Martinů Complete Edition vom Bohuslav Martinů-Institut in Prag im Auftrag der Martinů-Stiftung zur Veröffentlichung vorbereitet.
Im Bärenreiter-Verlag startet die Bohuslav Martinů Complete Edition jetzt mit einem doppelten Paukenschlag. Gleichzeitig erscheinen zwei Hauptwerke dieses Klassikers der Moderne: die im Frühjahr 1945 entstandene 4. Symphonie und das 1958 von Paul Sacher uraufgeführte Epic of Gilgamesh.
Vierte Symphonie
Bohuslav Martinůs 4. Symphonie entstand während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Sie wurde vermutlich im Sommer 1943 von William Ziegler in New York in Auftrag gegeben, uraufgeführt wurde sie dann am 30. November 1945 durch das Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy. Weitere Aufführungen folgten im Dezember an verschiedenen Orten in den Vereinigten Staaten. Wie aus Martinůs Korrespondenz mit seiner Familie vor und nach dem Ereignis hervorgeht, besuchte er die Uraufführung und schilderte sie als einen großartigen Erfolg. Eine Untersuchung der verfügbaren amerikanischen Rezensionen ergibt eine durchweg positive Bewertung. Die Kritiker bewunderten die durch handwerkliches Geschick gesteigerte Musikalität und die Fähigkeit, gleichzeitig der klassischen Form Genüge zu tun und neue Inhalte zu verwenden.
In Europa wurde das Werk durch Rafael Kubelík bekannt. Er leitete die europäische Erstaufführung mit der Tschechischen Philharmonie am 10. Oktober 1946 in Prag und dirigierte anschließend das Werk in weiteren europäischen Städten sowie in Australien. Martinů schickte seinem Verleger verschiedene Aufstellungen mit Korrekturen, doch ist es unsicher, ob Kubelík jemals über diese Änderungen informiert wurde, und falls ja, ob er diese Änderungen an der Originalpartitur bei späteren Gelegenheiten auch berücksichtigte. Alle vierundzwanzig Aufführungen, die Kubelík vor seiner Auswanderung aus der Tschechoslowakei am 17. Juli 1948 dirigierte, fußten auf dem Autograph. Den vier Aufführungen jedoch, die er 1950 in London und in den Niederlanden leitete, könnte auch die gedruckte Partiturversion zugrunde gelegen haben.
Die Symphonie blieb nicht unverändert: Vor der Veröffentlichung entschloss sich Martinů, einige Passagen zu verändern, die vorrangig das Klavier betrafen. Fehlende Partituren und die Tatsache, dass die Symphonie erst 1950 von Boosey & Hawkes veröffentlicht wurde, machen es unmöglich, die Änderungen in der Druckausgabe exakt zu datieren. Dennoch ist die Veröffentlichungsgeschichte der Symphonie ein Beweis für die Sorgfalt, mit der sich sowohl Martinů also auch der Verlag um eine exakte Ausgabe bemühten. Doch gab es auch Irrtümer: Die gedruckte Fassung enthält mehr als siebzig Fehler. Da Martinů alle seine Änderungen einbrachte, bevor er die Symphonie für den Druck freigab, folgt der Text dieser Edition im Wesentlichen der Fassung letzter Hand. Da bei den Aufführungen zwischen 1945 und 1948 jedoch die autographe Version verwendet wurde, dokumentiert der Band das ursprüngliche Konzept der Komposition in diesem Zeitraum. Diese Passagen, die von der Hauptfassung abweichen, sind im Anhang zu finden.
Sharon A. Choa / Sandra Bergmannová
Das Gilgamesch-Epos
Auf seiner ersten Europareise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Sommer 1948 verbrachte Martinů zwei Wochen als Gast von Paul und Maja Sacher auf dem Schönenberg bei Basel. Während dieses Besuchs erneuerte er seine Pläne zur Komposition einer Kantate und legte gemeinsam mit seinem Gastgeber ihr Thema fest. Er entschloss sich, sein Libretto auf eines der ältesten überlieferten literarischen Werke zu gründen: das babylonische Gilgamesch-Epos aus der Dritten Ur-Dynastie (2112–2004 v. Chr.), das sich auf mündliche Überlieferungen stützt. Es dauerte noch bis zum 30. August 1954, ehe Martinů auf die Gilgamesch-Thematik zurückkam. Am 18. Februar 1955 teilte er mit, das Werk vollendet zu haben.
Während des Kompositionsprozesses entwickelte sich Gilgamesch von einer „weltlichen Kantate“ in etwas, das „weder ein Oratorium […] noch eine Kantate […], sondern schlicht ein Epos“ darstellt. In seiner Musiksprache greift Das Gilgamesch-Epos auf historische Vorlagen zurück. Martinů hat dabei kreativ aus seinem starken Interesse an alter Musik geschöpft. Die Soli lassen die Kenntnis des „stile recitativo“ von Cavalieris Allegorie La Rappresentazione di Anima, et di Corpo erkennen; die Chorpartien spiegeln Studien der frühen Ars-antiqua-Periode wider, insbesondere der Werke Perotins und der Notre-Dame-Schule. Das archaische elisabethanische Englisch, in das Campbell Thompson das Epos übertragen hatte, bereitete dem Komponisten viele Probleme. Martinů war sich bewusst, dass es sowohl den Ausführenden als auch dem Publikum der Basler Premiere große Schwierigkeiten bereiten würde. Noch bevor das Stück fertigstellt war, machte er selbst Sacher den Vorschlag, eine Variante in deutscher Übersetzung einzustudieren. Auf Sachers Ersuchen hin wurde die deutsche Nachdichtung im folgenden Jahr von Arnold Heinz Eichmann angefertigt, und in dieser Übersetzung kam das Werk schließlich am 23. Januar 1958 in Basel zur Uraufführung. Paul Sacher dirigierte Kammerorchester und Kammerchor Basel. Die tschechoslowakische Erstaufführung erfolgte am 28. Mai 1958 im Smetana-Saal in Prag während des Festivals „Prager Frühling“. Nach Konzerten in Turin, Frankfurt und London fand am 21. Juni 1959 die prestigeträchtige Wiener Erstaufführung unter Paul Sachers Leitung statt. Sacher dirigierte die Philharmonia Hungarica und die Wiener Singakademie.
Kurz bevor Martinů an dem Epos zu arbeiten begann, sprach ihn Paul Sacher an und bat ihn, die Rolle des Sprechers auf ein Minimum zu reduzieren. Später regte er an, den Sprecher ganz zu beseitigen und seinen Text auf die Solisten zu verteilen, was Martinů dann mit einer Aufteilung auf Bass und Tenor vollzog. Die neue kritische Edition weist alle gesprochenen Passagen dem Sprecher zu (wie es Martinůs ursprüngliche Absicht war) und gibt die vom Komponisten autorisierten Bass- und Tenorstellen in Klammern wieder.
Bis vor Kurzem war nicht bekannt, dass Martinů eine halbszenische Aufführung seines Gilgamesch-Epos plante. Im April 1957 schrieb er zwei Konzepte mit Vorschlägen, wie man das Epos anders als ein Oratorium aufführen könne, wobei sich die Sänger mehr zueinander wenden sollten und weniger zum Publikum. Auch der Chor müsse an der Handlung teilhaben, um „die Konzertbühne zu befreien […]. Es ist kein unbewegliches Oratorium. Es ist eine alte Zeremonie und letztendlich ein babylonisches Mysterienspiel, und als solches erlaubt, ja fordert es eine gewisse Freiheit, die bei einem Oratorium fehl am Platze wäre.“ Sachers Antwort war vollständig ablehnend, und der Verlag druckte die Bühnenanweisungen nicht ab, so dass die Idee vergessen wurde.
Aleš Březina
(aus [t]akte 1/2015 – Übersetzung: Felix Werthschulte)