Rossinis heitere Oper „Le comte Ory“ steckt voller Esprit und musikalischer Zauberei. Zur Premiere im Januar in Zürich erscheint das Werk zum ersten Mal in einer kritischen Ausgabe im Rahmen der Edition „Opere di Gioachino Rossini“
Rossinis vorletzte Oper, seine letzte Komödie, machte schon immer den Anschein, ein außergewöhnliches Werk zu sein. Nicht für die Opéra comique, sondern für die Opéra geschrieben (also von Anfang bis Ende gesungen), handelt es sich hierbei um eine „petit opéra“, die kein Ballett beinhaltet, aber die Möglichkeit gibt, ein eigenständiges Ballett am gleichen Abend aufzuführen. Es ist lange bekannt, dass Le comte Ory teilweise auf Stücken aus Il viaggio a Reims basiert, obwohl die Art dieser Abstammung unklar war. Doch Rossini fügte diese Stücke brillant in den neuen Kontext ein. Le comte Ory ist jedoch in jeglicher Hinsicht ein Meisterwerk französischen Charmes und musikalischer Zauberei. Es wurde vierzig Jahre lang regelmäßig an der Opéra de Paris aufgeführt.
Die Geschichte spielt in der Nähe von und in Schloss Formoutiers in der Touraine. Die Ritter des Schlosses, einschließlich des Bruders der schönen Gräfin, sind auf einen fünfjährigen Kreuzzug nach Palästina gezogen. Die Frauen haben geschworen, während dieser Zeit keinem Mann Einlass zu gewähren. Sie haben jedoch die Hartnäckigkeit des berüchtigten Grafen Ory nicht bedacht. Im ersten Akt geben Ory und seine Anhänger vor, Eremiten zu sein, und Ory versucht, zur Gräfin zu gelangen. Der Plan wird jedoch durch den Protest seines Lehrers und seines Pagen Isolier durchkreuzt. Isolier, der selbst in die Gräfin verliebt ist, eröffnet dem Eremiten, den er zuerst nicht erkennt, einen weiteren Plan, wie man in das Schloss gelangen kann: Die Ritter sollen sich als Pilgerinnen verkleiden und um Einlass bitten. Im zweiten Akt wenden sie diese List an und verwandeln sich von Rittern in Pilgerinnen und wieder zurück. Letztendlich bedroht Ory als „Schwester Colette“ die Tugend der Gräfin, doch wird er von Isolier davon abgehalten. Besonders delikat ist das Trio, in dem ein Mann (Ory), der als Frau verkleidet ist, denkt, er mache einer Frau (der Gräfin) den Hof, aber tatsächlich macht er einer Frau den Hof, die als Mann verkleidet ist (Isolier). Die Oper endet mit der Rückkehr der Kreuzritter und der Abreise von Ory und seinen Männern.
Alle früheren Ausgaben bauten auf der stark fehlerhaften Edition der Oper auf, die Eugène Troupenas, Rossinis Verleger, 1828 in Paris veröffentlicht hatte. Die neue Edition wird Metronomangaben früher Abschriften, drastische dynamische Änderungen und eine akkurate Artikulation berücksichtigen und der Kritische Bericht frühe Verzierungen, die in den Partien des Grafen und der Gräfin gefunden wurden.
Die Neuausgabe basiert auf den einzigen überlieferten autographen Quellen der Orchestereinleitung und des Trios und zieht auch Il viaggio a Reims heran, hauptsächlich aber originales Aufführungsmaterial: Hauptquelle ist die Partitur, die in den Archiven der Opéra gefunden wurde (Rossini selbst hat einige Anmerkungen eingetragen). Schließlich wird die Partitur gründlich mit allen Stimmen des Aufführungsmaterials und mit Troupenas’ Partitur verglichen (da im Manuskript der Opéra Abschreibfehler existieren). Die Edition entspricht damit der von Rossini selbst erstellten und 1828 in der Opéra aufgeführten Fassung. Außerdem ist sie die einzige Ausgabe, die Regieanweisungen aus dem gedruckten Originallibretto einbezieht und größte Sorgfalt auf die Textedition verwendet.
Es wurde zudem Musik, die für Aufführungen in Paris gestrichen wurde, einbezogen. Diese Teile der Musik sind stets mit „Vi-de“ in der neuen Ausgabe gekennzeichnet und können, wenn gewünscht, ausgelassen werden.
Die Partitur enthält eine Reihe von Anhängen: 1. den ausführlichen Entwurf, den Rossini für das „Trio“ in Akt II angefertigt hatte; 2. einige Passagen, die Rossini gestrichen oder geändert hatte, bevor er sie vollständig orchestriert hat; 3. zusätzliche Bühneneffekte, die für die Aufführungen an der Opéra im Jahr 1828 ergänzt wurden, jedoch wahrscheinlich nicht vom Komponisten selbst stammen; 4. zwei Passagen, deren „überarbeitete“ Versionen nicht durch ein „Vi-de“ einbezogen werden konnten: das Finale I (mit einer geringeren Anzahl von Stimmen wie von Troupenas veröffentlicht) und die Wiederholung des Cabaletta-Themas aus dem Duett des Grafen und der Gräfin; 5. eine andere Cavatina der Gräfin, die aus Rossinis Elisabetta, regina d’Inghilterra stammt, die alternativ von verschiedenen Sängern eingeführt wurde.
Die wichtigsten Änderungen sind folgende:
Nr. 1 Introduzione – Takte 1–170 basieren auf Rossinis Autograph. Der Rest, der aus Il viaggio a Reims stammt, wurde nicht verändert. Graf Orys Begleiter, Raimbaud, agiert in dieser Szene als Robert, da er, wie der Graf auch, verkleidet ist.
Nr. 2 Air du Gouverneur – Rossini plante ursprünglich, für den ersten Teil dieser Arie den ersten Teil der Arie von Milord aus Il viaggio a Reims zu verwenden, entschied jedoch schließlich, dafür eine neue Musik zu komponieren. Bisher enthielt jede Edition den überarbeiteten ersten Teil. Die neue Edition wird in Anhang 2 die aus Il viaggio a Reims stammende Version einbeziehen.
Einige Passagen des ersten Teils der Oper wurden sehr früh gestrichen. Diese sind in der neuen Partitur mit „Vi-de“ markiert. Im „tempo di mezzo“ bezog Rossini ursprünglich die Takte 169–202 von Le comte Ory ein, die direkt aus Viaggio stammen. Später wurde beschlossen, diese Takte in Le comte Ory auszulassen. Diese Passage ist ebenfalls mit „Vi-de“ in der neuen Ausgabe markiert.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurden an der Opéra das gesamte „tempo di mezzo“ und die Cabaletta ausgelassen, jedoch später wieder integriert.
Nr. 3 Récitatif après le Duo – Hier sind der neue Text und die Gesangsmelodie in den Takten 2–7 für Raimbaud, mit einer kurzen Antwort von Ory, zu beachten. Zum Teil wurde diese Musik von Rossini selbst in die Hauptquelle eingefügt.
Nr. 4 Air Comtesse – Rossini entnahm dieses Air ursprünglich Il viaggio a Reims. In Paris wurde regelmäßig ein alternatives Air (siehe Appendix 5) gesungen, das aus Elisabetta, regina d’Inghilterra (Mathildes Cavatina „Sento un interna voce“) stammt. Ein weiteres alternatives Air stammt aus Matilde di Shabran, doch hatte es eine sehr begrenzte Lebensdauer.
Ursprünglich verwendete Rossini mehr Teile der originalen Arie der Folleville aus Il viaggio a Reims für das Air der Gräfin in Le comte Ory. Doch wurde dann entschieden (eventuell von Rossini, vielleicht auch von anderen), das Stück zu kürzen. Es wurden zwei Striche vorgenommen: Takte 41–67 und 73–123.
Nr. 5 Finale – In den Gesangsstimmen gibt es signifikante Änderungen. Wie Damien Colas zeigen konnte, hat Rossini dieses Stück fast direkt von dem bekannten „Gran Pezzo Concertante“ für vierzehn Solostimmen aus Il viaggio a Reims abgeleitet. Doch verwendet er hier durchgehend dreizehn Solostimmen und ergänzt zwei Chöre (einen Männerchor für den Grafen und einen gemischten Chor für die Gräfin). Dies entspricht exakt der Form, in der das Finale des ersten Aktes in Paris gesungen wurde. Troupenas reduzierte Rossinis Gesangsstimmen auf sieben Solisten, wahrscheinlich, um das Stück für Theater in der Provinz leichter aufführbar zu machen. Die neue Edition gibt die reduzierte Version im Anhang 4 wieder.
Akt II: Nr. 6 Introduction – Hier gibt es ein Problem in den Gesangsstimmen. In Troupenas’ Edition befiehlt die Gräfin Ragonde, die Tür für die „Pilger“ zu öffnen; von hier bis zum Ende des Teils wird das zweite Solo von einer Coryphée gesungen. In der Partitur von Paris singt jedoch Ragonde weiter. Sie kann jedoch nicht gleichzeitig singen und zur Tür gehen, um sie zu öffnen. Als Lösung bietet sich an, dass Ragonde weiter singt und eine Dame aus dem Damenchor geschickt wird, die Tür zu öffnen. Anhang 3 enthält Bühneneffekte für den Sturm in dieser Einleitung von einem Teil für die Darsteller, aber wahrscheinlich nicht von Rossini.
Nr. 7. Duo – Dieses Stück ist Il viaggio a Reims entnommen (das Duett von Corinna und Cavalier Belfiore). Ursprünglich begann es mit einer Strophe für die Gräfin (A), die sofort von Ory wiederholt wurde (A). In der Wiederholung wurde die Passage noch einmal genauso wiedergegeben wie zuvor, doch sang die Gräfin zusätzlich kontrapunktisch zu Orys Wiederholung. Irgendwann wurde beschlossen, diese Wiederholung zu kürzen und so wurde das Thema lediglich einmal von der Gräfin wiederholt und Ory sang kontrapunktisch dazu. Diese gekürzte Version wird im Anhang 4 wiedergegeben.
Nr. 8–11 – Diese Musik wurde neu für Le comte Ory komponiert. Wenige Pariser Striche sind mit „Vi-de“ gekennzeichnet. In der grundlegenden Quelle hat Rossini einige Eintragungen im Chœur (N. 8) selbst vorgenommen.
N. 12 Finale – Dieses Stück wurde regelmäßig für seine Kürze kritisiert. Mittlerweile wissen wir jedoch, dass das Finale, wie Rossini es ursprünglich geplant hatte, 60 Takte länger war. In der neuen Ausgabe wird die vollständige Version dieses Teils wiedergegeben. Dies ist eine beachtenswerte Änderung in der Partitur. Diese Originalversion des Stücks wurde von Colas entdeckt und vervollständigt (nicht alle Teile der längeren Version sind überliefert), doch kann die kürzere Version aufgeführt werden, wenn eine längere „Vi-de“ Stelle beachtet wird.
Philip Gossett
(Übersetzung: Maja Kamprath)
aus: [t]akte 2/2010