Mehr als siebzig Jahre liegt das Erscheinen des ersten Bandes der Sämtlichen Werke Christoph Willibald Glucks zurück. Nun steht die Edition, die viele Werke überhaupt erst zugänglich machte, vor dem Abschluss. Eine vorläufige Bilanz.
1951 erschien mit der Opéra-comique „L’Ivrogne corrigé“ der erste Band der Gluck-Gesamtausgabe im Bä-renreiter-Verlag und bildete somit den Auftakt der Herausgabe sämtlicher Werke Christoph Willibald Glucks, die nun kurz vor der Vollendung steht. In 59 Bänden, deren vertrauter hellblauer Einband in zunehmenden Maße auf den Dirigentenpulten in aller Welt zu finden ist, steht der Musikpraxis dann Glucks vielfältiges Œuvre in seiner Gesamtheit zur Verfügung und lädt gleichermaßen zu Neu- und Wiederentdeckungen ein.
In der Anfangsphase des Vorhabens wurden zunächst Werke mit weitgehend unproblematischer Quellenlage vorgelegt, also Editionen, die in Ermangelung von Autographen nach nur wenigen überlieferten Abschriften oder einem noch zu Lebzeiten Glucks veröffentlichten Partiturdruck erstellt wurden. Dies traf insbesondere auf seine sogenannten „Reformopern“ wie „Orfeo ed Euridice“ und „Alceste“ zu, mit denen er der italienischen Oper eine neue musikdramatische Richtung gab, sowie auf die im Auftrag der Pariser Académie Royale de musique komponierten Opern wie die beiden „Iphigénie“-Vertonungen, die auch dem französischen Musiktheater zu einem epochalen Neuanfang verhalfen. Entsprechende Vormachtstellung genossen diese Werke als Repräsentanten von Glucks Schaffen und dominierten lange Zeit das Repertoire. Dabei umfasst Glucks Œuvre ein breites Spektrum unterschiedlicher Gattungen, deren jeweilige Abteilungen innerhalb der Gesamtausgabe in den letzten zehn Jahren vielfältige Bereicherungen erfahren haben: So wurde 2013 auf Grundlage des in der Tanzforschung gebräuchlichen erweiterten Autor- und Werkbegriffs beschlossen, sämtliche überlieferten Ballette aus Glucks von 1759 bis 1764 währender Tätigkeit als Ballettkomponist in Wien in die Gesamtausgabe aufzunehmen. Ergänzend zu seinen Ballets pantomimes Don Juan, „Sémiramis“ und „Les Amours d’Alexandre et de Roxane“ erschienen demnach in drei Teilbänden zwanzig für die Wiener Hoftheater komponierte Ballettmusiken nach Choreographien von Gasparo Angiolini und Carlo Bernardi, deren Handlungsrahmen in den meisten Fällen anhand flankierender Textquellen nachvollziehbar gemacht und in den jeweiligen Bandvorworten erläutert werden, was der heutigen Tanztheaterpraxis attraktive Anregungen zur choreographischen Umsetzung bietet. Innerhalb des Genres der Opéra-comique, mit deren Bearbeitung und Einrichtung des auf Pariser Repertoire fußenden Materials für den Wiener Publikumsgeschmack Gluck im gleichen Zeitraum betraut war, eröffnete die Intensivierung der Vaudeville-Forschung neue Ansätze und Möglichkeiten der Rekonstruktion. In den 2015 bzw. 2018 erschienenen Werkeditionen der jeweils auf Vaudeville-Komödien basierenden Wiener Adaptionen „L’Arbre enchanté“ (1759) und „La Fausse Esclave“ (1758) werden recherchierte Melodien unter Hinweis auf den ursprünglichen Titel einstimmig und mit der im Libretto verzeichneten Textunterlegung dem von Gluck neu komponierten Notentext beigegeben und die Werkgestalt somit in Gänze wiederaufführbar gemacht. Gleiches gilt für die demnächst zu erwartende Edition der Wiener Fassung der Opéra-comique „Cythère assiégée“ (1759). Mit deren 1775 für Paris geschaffenen Bearbeitung wiederum leistete Gluck einen Beitrag zur auf der französischen Bühne präferierten Gattung Opéra-Ballett. Die hierfür vorgenommenen Änderungen der ursprünglichen Partitur durch Vokal- und Tanzeinlagen und die sich unterscheidenden Versionen des intendierten, aufgeführten und gedruckten Werks sind dabei durch den vierteiligen Anhang der Notenedition ebenso verfügbar wie das vom Operndirektor Pierre-Montan Berton hinzugefügte Schlussballett, wodurch reizvolle Varianten für aktuelle Aufführungen ermöglicht werden. Auch Glucks Schauspielmusik zu „Soliman second“, ou „Les Trois Sultanes“ ist eine Wiederentdeckung wert. Die wegen ihres exotischen Kolorits beliebte Verskomödie aus der Feder Charles-Simon Favarts wurde nach ihrer erfolgreichen Premiere 1761 an der Pariser Comédie-Italienne vier Jahre später in Wien zur Aufführung gebracht und mit der Komposition der im Theaterstück vorgesehenen Gesangsnummern Gluck beauftragt, dessen Beitrag zu dieser Gattung einen Sonderfall innerhalb seines Schaffens darstellt.
Wenngleich Glucks kompositorisches Wirken nahezu ausschließlich dem Musiktheater galt, so ist unter seinem Namen auch eine Reihe von Instrumentalwerken überliefert, die einen Platz in der Gesamtausgabe wie in den Konzertsälen verdienen. Aus der eingehenden Behandlung der für diese Werkgruppe besonders herausfordernden Autorschaftsfrage resultierte die Edition von siebzehn Gluck zugeschriebenen Sinfonien, von denen einige dem Typus der konventionellen italienischen Opernouvertüre entsprechen, ohne einem seiner Frühwerke unzweifelhaft zugeordnet werden zu können, während andere vermutlich für private oder öffentliche Konzerte entstanden sind. Einen weiteren Schwerpunkt des Vorhabens bilden Glucks Opere serie, denen er sich insbesondere in der Anfangsphase seines Schaffens widmete. Unter den für oberitalienische Bühnen entstan-denen Opern ist einzig seine Vertonung von Pietro Metastasios Dramma per musica „Ipermestra“ vollständig erhalten und harrt mit ihrer eindrucksvollen, der berühmten Altistin Vittoria Tesi auf den Leib geschriebenen Titelpartie einer Wiederaufführung. Vergleichbares gilt für Glucks 1743 in Mailand uraufgeführte Oper „Demofoonte“, von der sämtliche geschlossenen Nummern und zwei Accompagnato-Rezitative überliefert sind. Ergänzt um eine der erhaltenen Opernsinfonien Glucks und mit nachkomponierten Secco-Rezitativen ausge-stattet, kann auch dieses Werk seinen verdienten Weg auf die Opernbühne zurückfinden. Von Glucks übrigen frühen Opere serie haben sich demgegenüber nur einzelne Vokalnummern unterschiedlicher Anzahl erhalten, darunter vornehmlich die für Starkastraten wie Giovanni Carestini, Angelo Maria Monticelli und Felice Salimbeni komponierte Bravourarien, die eine reizvolle Bereicherung des Gesangsrepertoires darstellen.
Dass die Recherchen zu dieser Werkgruppe quasi nie als abgeschlossen gelten können, zeigt ein jüngst erfolgter Quellenfund von elf Vokalstücken aus Glucks 1744 für das Turiner Teatro Regio komponierter Oper „Poro“, unter denen sich acht bislang unbekannte Arien befinden. Damit wächst der Anteil des tradierten Notentextes dieses Werkes auf nahezu fünfzig Prozent und erweitert den verfügbaren Bestand des nach wie vor Überraschungen bergenden gluckschen Œuvres.
Tanja Gölz
(aus „[t]akte“ 2023)