Die großen geistlichen Werke Telemanns zeigen eine große Vielfalt: von der „oratorischen“, im Gottesdienst aufgeführten Passion bis hin zu „Oratorium“ genannten Kircheneinweihungsmusiken und Oratorien für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahrs.
Von 1722 bis 1767 erklang in Hamburg jährlich eine neue Passion, wobei die Evangelien wechselten. Somit war Telemanns erste Hamburger Passion eine Matthäuspassion, seine letzte eine nach dem Evangelisten Markus. Durch den Wechsel der Textgrundlage und das von Jahr zu Jahr andere Konzept der textlichen und musikalischen Gestaltung der interpolierten Arien ergibt sich wie in anderen Werkgruppen auch ein komplexes Bild aus charakteristischen Werken.
Eines dieser besonderen Werke ist die Lukaspassion von 1728 (Telemann-Ausgabe [TA], Band 15). Hier wird den einzelnen Stationen der Passionserzählung nach Lukas jeweils eine „Vorbereitung“ und deren „Gläubige Anwendung“ vorangesetzt, wo alttestamentliche Geschehnisse zur Passion Christi in Beziehung gesetzt werden. Diese gedichteten Abschnitte wurden als beispielhaft angesehen und 1738 im sechsten Band der Poesie der Niedersachsen abgedruckt. Die Musik der Passion ist in einer für Telemanns Passionen typischen Form des Autographs erhalten, bei dem auch andere Schreiber nachzuweisen sind.
Wie ambitioniert Telemann bei den Passionen vorging, zeigt auch die Johannespassion von 1745 (TA, Band 29), deren betrachtende Einlagen von Joachim Johann Daniel Zimmermann stammen, mit dem Telemann seit den 1730er Jahren gern zusammenarbeitete. Diese Passion wurde im Verlag Balthasar Schmids in Nürnberg gedruckt, wo bereits der Jahrgang Musicalisches Lob Gottes erschienen war. Im Unterschied dazu (der Jahrgang kam in Partiturform heraus) erschien die Passion in Stimmen, zu denen ein in der Art eines Klavierauszuges angelegtes Particell gehört. In der musikalischen Konzeption verwirklicht Telemann einen im Text angelegten Dualismus: Für das Bibelwort wählt er eine „würdevoll-distanzierte Art der Vertonung“, die das Textwort hebt, zugleich folgt er im gesamten Werk der vom Dichter entwickelten feinsinnigen Dramaturgie im Sinne affektiver Wirkungsabsicht, wobei Gegensätze, die auch in einer einzigen Arie zum Tragen kommen können, eher verstärkt als ausgespart werden (Wolfgang Hirschmann im Vorwort zu TA, Band 29). Ganz im Sinne der Auslegung und Darstellung eines heldenhaften Jesus-Bildes gipfelt das Werk folgerichtig, aber für eine Passion nach heutigem Verständnis eher ungewöhnlich, in einem triumphierenden Schlusschor.
Das Passionsoratorium, das seinen Ort in Privathäusern und bald in Nebenkirchen hatte, entwickelte sich im frühen 18. Jahrhundert in Hamburg. Dabei blieb die Passion nicht das einzige Sujet des Oratoriums, doch lange Zeit das wichtigste. Ein Oratorium als „Sing-Gedicht, welches eine gewisse Handlung oder tugendhafte Begebenheit auf dramatische Art vorstellet“ (Johann Mattheson 1739), basiert immer auf einem poetischen Libretto. Telemann, der literaturverständige und manchmal selbst dichtende Komponist, beobachtete das literarische Leben seiner Zeit intensiv und regte Dichter an, nicht nur Kirchenmusiktexte bereitzustellen, sondern auch Vorlagen für geistliche Konzertmusik zu schaffen. Sein frühestes erhaltenes Passionsoratorium ist das 1716 in Frankfurt komponierte Oratorium Der für die Sünde der Welt leidende und sterbende Jesus auf das Libretto von Barthold Heinrich Brockes (TA, Band 34). Telemanns Musik ist ganz dem hohen, affektgeladenen Stil der Dichtung verpflichtet, er verwendet ihr entsprechende „außergewöhnliche, drastische kompositorische Mittel“ (Wolfgang Hirschmann).
Für das im März 1722 uraufgeführte Selige Erwägen (TA, Band 33) schrieb Telemann selbst den Text. Dabei verzichtete er auf die Erzählung der Geschehnisse entlang der Überlieferung der Evangelien – er fokussierte auf die andächtige Betrachtung und die Reflexionen des gläubigen Hörers. Dieses Werk hat, vielleicht wegen dieser Ausrichtung, aber auch wegen der besonderen Feinheit seiner Musik, eine ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte, die bis in das frühe 19. Jahrhundert reicht und die sich in der reichen Quellenlage widerspiegelt.
Zu den sogenannten „Spätwerken“ Telemanns gehören die drei Oratorien nach Texten von Karl Wilhelm Ramler, von dem auch die Libretti zu der großen Kantate Ino und der Idylle Der Mai stammen. An dieser Zusammenarbeit zeigt sich zudem Telemanns offensichtlich reger Austausch mit den Berliner intellektuellen Kreisen. Von den drei Oratorien – Ramler veröffentlichte sie 1760 als Zyklus unter dem Titel „Geistliche Kantaten“ – wurden das Weihnachtsstück Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem (TA, Band 30) zur Vertonung durch Johann Friedrich Agricola und das Passionsoratorium Der Tod Jesu (TA, Band 31, hier auf Grund der Aufführungs- und Überlieferungsgeschichte kombiniert mit einem weiteren Passionsstück, der Betrachtung der neunten Stunde) für Karl Heinrich Graun gedichtet. Das Libretto zu Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu (TA, Band 32) entstand dann direkt im Auftrag Telemanns, vertont wurde es später noch einmal von Carl Philipp Emanuel Bach.
Mattheson zufolge können Kompositionen zu besonderen Gelegenheiten, er nennt als Beispiele „Hochzeit-Stücke“, „Trauer-Musiken“ und „Sieges-Gesänge“ in der Art von Oratorien, also dramatisch, gefasst sein. Telemann hat eine große Zahl solcher Gelegenheitswerke komponiert, darunter eine Musik auf den Tod Augusts des Starken (TA, Band 49). Jährlich führte er eine zweiteilige, aus einem „Oratorio“ genannten geistlichen Stück und einer Serenata bestehende Kapitänsmusik auf (vgl. die in TA, Band 27, vorgelegte des Jahres 1730). Die Kombination von Oratorio und Serenata hatte er vorher bereits in der groß dimensionierten und reichhaltig besetzten Frankfurter Festmusik zur Geburt des kaiserlichen Prinzen im Jahr 1716 verwirklicht (TA, Band 16 und 17). Seine Einweihungsmusiken zu neu erbauten oder rekonstruierten Kirchen konzipierte Telemann nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Auftraggeber, ohne Abstriche an seinen kompositorischen Ansprüchen zu machen (TA, Band 35).
Eine Besonderheit im Werk Telemanns ist die Einführung dramatischer Elemente in die sonn- und festtägliche Kirchenmusik. Gibt es im Jahrgang nach Texten von Gottfried Behrndt (TA, Band 48) oratorische Anklänge, zieht sich die dramatische Gestaltung der Libretti durch den ganzen Jahrgang, den der Hamburger Pfarrer Tobias Heinrich Schubart für Telemann gedichtet hat (TA, Band 59). Ein Jahr später gab es einen weiteren Jahrgang Oratorien, dessen Stücke zu den hervorgehobenen Festtagen des Kirchenjahres, wie das zu Michaelis oder das zu Johannis (Gelobet sei der Herr), aus dem liturgischen Zusammenhang gelöst in das Konzertrepertoire übergingen (TA, Band 58, i. V.)
Ute Poetzsch
(aus [t]akte 1/2015)