Hector Berlioz’ Bearbeitung von Webers „Freischütz“ bietet auch heute noch eine bestechende Alternative zu Webers originaler Komposition
Berlioz hat oft gegen Musikerkollegen gewettert, die in musikalische Meisterwerke „eingriffen“, ohne dabei jedoch den Anweisungen der Komponisten genau zu folgen. Eines der Opfer seiner Wut war Castil-Blaze. Dieser hatte 1824 eine sehr erfolgreiche Produktion von Webers Der Freischütz (als Robin de bois) am Pariser Théâtre de l’Odéon inszeniert, die Berlioz als „grob verzerrt, verstümmelt und auf das Rücksichtsloseste entstellt“ bezeichnete. Berlioz’ Interesse, sich 1841 an einer authentischeren, auf einer von Émilien Pacini stammenden Neuübersetzung des Librettos basierenden Produktion an der Pariser Opéra zu beteiligen, ist also verständlich. Aber: Warum in aller Welt schrieb er angesichts seiner Haltung zu musikalischer Unverfälschtheit Rezitative für die gesprochenen Passagen innerhalb der Oper?
Die Begründung liefern Berlioz’ Memoires: „Im Freischütz“, heißt es dort, „stehen zwischen den Gesangsnummern gesprochene Dialoge, wie in unseren Opéras Comiques; die Konventionen der Grand Opéra fordern dagegen, dass jedes Wort des drama oder der lyric tragédie gesungen werden muss“. Ohne Rezitative hätte es überhaupt keine Produktion an der Opéra gegeben – Berlioz stimmte dem Eingriff also zu, unter der Bedingung allerdings, dass „das Werk völlig der Komposition entsprechend aufgeführt würde, ohne auch nur ein Wort oder eine Note zu ändern“. Außer den Rezitativen forderte die Tradition der Grand Opéra auch ein Ballett als Entracte. Dafür diente Webers Aufforderung zum Tanz, das, von Berlioz arrangiert und orchestriert, als L’invitation à la valse zur Aufführung kam
Die Produktion mit Berlioz’ Rezitativen, zuerst aufgeführt am 7. Juni 1841 unter Pantaléon Battu (in Vertretung des kranken Habeneck), war ein bemerkenswerter Erfolg. Sie wurde bis zum 27. April 1846 sechzigmal wiederholt
Eine weitere Abweichung von Webers Partitur war nötig geworden: Rosine Stoltz in der Rolle der Agathe musste ihre Arien im zweiten und dritten Akt um einen Ton bzw. um eine kleine Terz heruntertransponieren. Das Hauptproblem aber war, dass die Rezitative zu lang erschienen, besonders in der Szene zwischen Max und Gaspard am Ende des Ersten Aktes. Selbst Berlioz musste dem zustimmen; zum Gutteil machte er allerdings die Sänger dafür verantwortlich, die eine angemessene Leichtigkeit des Vortrages nicht erreichten
Als die Produktion 1850 wieder aufgenommen wurde, hatte die Pariser Opéra offenbar die Geduld mit Berlioz’ Bedingungen hinsichtlich der Bewahrung der Einheit des Werkes verloren, und sowohl seine Rezitative als auch Webers Musik wurden gekürzt. Berlioz wurde herbeigerufen, um den Kürzungen zuzustimmen, und musste feststellen, dass es kaum viel Anlass für Beschwerden gab (und tatsächlich sind die kürzeren Versionen, enthalten in Band 22b, Anhang IV der New Berlioz Edition, als praktische Variante durchaus zu empfehlen)
Er war allerdings mehr als verärgert, als weit und breit ihm die Schuld an den „Kürzungen, Verstümmelungen und Verschandelungen“, wie er es nannte, gegeben und er 1853 sogar vor Gericht deswegen angehört wurde – aufgrund einer Klage, die ein einflussreicher Opernbesucher wegen Falschdarstellung gegen das Haus angestrengt hatte.
Berlioz richtete 1849/50 eine italienische Version der Rezitative für das Berliner Königstädtische Theater ein, das eine italienische Truppe beschäftigte (Band 22b, Anhang III der Neuen Berlioz Edition). 1850 verkaufte er sie auch an das Londoner Covent Garden Theatre – dort benutzte man eine andere italienische Übersetzung und die Rezitative wurden so erweitert, dass Berlioz sie bei einer Aufführung im Mai 1851 überhaupt nicht wieder erkannte. Weitere Inszenierungen, die Berlioz’ Rezitative benutzten, gab es zu seinen Lebzeiten in Valparaiso/Chile (1854), Mailand (1856), Boston (1860) und Buenos Aires (1864).
Und auch seitdem wurde der französischen Berlioz-Fassung als „Le Freyschutz“ im französischsprachigen Raum eine ununterbrochene Aufführungstradition zuteil. Das neue, bei Alkor erhältliche Material basiert auf der bei Peters lieferbaren kritischen Edition von Joachim Freyer, in die die Änderungen Berlioz’ eingearbeitet wurden.
Ian Rumbold
(Übersetzung Hansjörg Drauschke)
Berlioz’ Bearbeitung von Webers „Freischütz“
20.02.2010 Theater Trier [Premiere]
Carl Maria von Weber/Hector Berlioz: Der Freischütz
Musikal. Leitung: Valtteri Rauhalammi, Inszenierung: Lutz Schwarz