Im Osten unvergessen, im Westen nie richtig bekannt: In der DDR gab es höchst erfolgreiche Musiktheaterwerke heiteren Genres. Einige davon sind über Bärenreiter · Alkor erhältlich.
Sozialistisch, aber unterhaltsam
Mit dem Begriff „Heiteres Musiktheater“ wurde in der DDR der Versuch unternommen, das beim Publikum äußerst beliebte Unterhaltungsgenre – Operette und später auch Musical – aus dem „kapitalistisch-bourgeoisen“ Kontext zu lösen und für den Sozialismus nutzbar zu machen. Denn Aufführungsstatistiken zeigen über die Jahrzehnte hinweg, dass das Publikum in der DDR sehr gerne Operetten konsumierte. Die dort verhandelten Themen entsprachen aber weder der Erfahrungswelt der DDR-Bürger noch den Erwartungen der sozialistischen Kulturpolitik.
Wie bei vielem im DDR-Sozialismus tat sich auch hier eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis auf: Während auf Tagungen, in den Zeitschriften „Musik und Gesellschaft“ und „Theater der Zeit“ und bei Arbeitstreffen mit Verlagen, Dramaturgen und Intendanten jahrzehntelang sowohl über den Begriff „Heiteres Musiktheater“ debattiert wurde als auch über die Frage, welche aktuellen, der sozialistischen Gesellschaft angemessenen Inhalte in neuen Operetten und Musicals denn behandelt werden sollten und wie überhaupt die Produktion solcher neuen Werke befördert werden könnte, wurden an den Häusern weiter die Operetten der goldenen und silbernen Operettenära, von Offenbach über Johann Strauss bis zur Berliner Operette hoch und runter gespielt und vom Publikum geliebt. Die Debatte über das „Heitere Musiktheater“ lief schließlich ins Leere, der Begriff setzte sich im alltäglichen Umgang nicht durch. Er taugt trotzdem als Sammelbegriff für in der DDR entstandene Operetten und Musicals, die hauptsächlich bei den Verlagen „Lied der Zeit“ und „Henschel Musik“ erschienen. Henschel Musik ist heute Teil der Bärenreiter-Unternehmensgruppe, wo die Schätze nun schlummern und einer Wiederentdeckung harren.
Komponisten, die in der Lage waren, schmissige, moderne und dabei nicht seichte Musik zu komponieren, gab es in der DDR einige, allen voran Gerd Natschinski, Guido Masanetz, Herbert Kawan und Conny Odd (eigentlich Carlernst Ortwein). Ihre Musik speist sich großteils aus Gesellschafts- und Modetänzen wie Tango, Blues, Cha-Cha-Cha, Rumba, Boogie-Woogie usw., je nach Sujet konnten auch volksmusikalische Melodien hinzukommen. Mit gefühlvollen oder spritzigen, ironischen oder ernsthaften Solonummern charakterisierten sie ihre Figuren und konzipierten schwungvolle Akt-Finali.
Gesucht: Operetten ohne Widersprüche
Doch bevor die Komponisten komponieren konnten, brauchten sie natürlich einen Stoff, ein Libretto. Dies zu finden, erwies sich als das eigentliche Problem. Denn im sozialistischen Staat waren ja per Selbstdefinition die kapitalistischen Widersprüche und damit die Grundkonflikte der Operette überwunden: nichtstandesgemäße Liebe, Geldsorgen, Standesunterschiede allgemein, Klassenunterschiede usw. Es mussten also Themen gefunden werden, die der DDR-Realität entsprachen und gleichzeitig interessant genug für die Musiktheaterbühne waren.
In diese Themenfindung spielte natürlich auch der Versuch hinein, die Operette für die sozialistische Gesellschaftspolitik zu instrumentalisieren, um das reale Leben der sozialistischen Bevölkerung auf der Theaterbühne zu zeigen. Dies wurde sehr intensiv diskutiert, so intensiv, dass nur wenige Komponisten den Mut hatten, solche Operetten zu komponieren. Die Theoretiker suchten zunächst nach der „progressiven“ Quintessenz der Operette und versuchten, alle bürgerlichen und spätbürgerlichen Aspekte wegzudenken. Die „Gegenwartsoperette” war das Ziel, sie sollte – in Anlehnung an Brecht – zum Handeln anregen und den sozialistischen Menschen in seiner Entwicklung zeigen. Manche entstandenen Texte zeigten fast zu viel Realität und scheinen eher für das Kabarett bestimmt zu sein, einschließlich falscher Zitate oder Parodien konkreter Personen.
In der Festschrift zu 15 Jahren Operettentheater Dresden war das Ziel wie folgt formuliert:
„Uns geht es um ein künstlerisches Erlebnis, in dem sich Musik, Gesang, Tanz und spritzige Dialoge zu einem vorwärtsweisenden Abbild des Lebens verbinden, ein künstlerisches Erlebnis, das Humor und Lebensfreude ausstrahlt und zurückgebliebenen Zeitgenossen mit Spott und Satire freundschaftliche Rippenstöße verpasst.“
Für die Entstehung neuer Operetten und Musicals in der DDR schlossen sich Komponisten und Librettisten zu Autorenteams zusammen, Operettenhäuser beauftragten Komponisten mit der Produktion von neuen Stücken. Es gab auch Wettbewerbe für Librettisten oder Komponisten, wobei sich die Verlage dann verpflichteten, die besten Einsendungen unter Vertrag zu nehmen. Die verantwortlichen Theater, Musikwissenschaftler und Verlage bevorzugten Auftragswerke und Wettbewerbe, aber meist waren Werke, die auf einem „Entwicklungsvertrag” basierten, nicht sehr erfolgreich. Die harte Arbeit an der Suche nach neuen Werken lässt sich beispielsweise dadurch illustrieren, das allein 1960/61 bei Henschel 19 neue Operetten und 17 Lustspiele eingereicht wurden, aber nur zwei Operetten und drei Lustspiele als bühnentauglich befunden und herausgebracht wurden.Bei den entstandenen Libretti lassen sich mehrere Themenkomplexe beschreiben: Es ging um das Verhältnis von Mann und Frau in Ehe und Gesellschaft, um (kleine) Probleme der sozialistischen Wirtschaft, häufig wurden aber auch Sujets der Weltliteratur herangezogen oder Sujets, die im Ausland spielen, vorzugsweise im Kapitalismus.
All diese Themengebiete bargen natürlich Probleme. Im Fokus sollten Themen der gegenwärtigen sozialistischen Zeit stehen. Der sogenannte „Bitterfelder Weg“, eine DDR-spezifische kulturpolitische Idee, die Kultur und Wirtschaft in intensiven künstlerischen Kontakt bringen wollte, wäre hier eine gute Basis gewesen. Allerdings sollte ja am Ende doch nicht das realistische sozialistische Leben mit all seinen aktuellen Problemen gezeigt werden, sondern das imaginäre, problemlose sozialistische Leben der Zukunft. Für die Librettisten und Komponisten ergab sich daraus die für das gesamte Theater in der DDR festzustellende Gratwanderung zwischen offizieller Darstellung und zwischen den Zeilen lesbarer Ironie und Kritik. Die Kulturtechnik des Zwischen-den-Zeilen-Lesens war allen DDR-Bürgern von klein auf antrainiert und konnte im Theater vorausgesetzt werden.
Und so stellt sich auch heute wiederum die entscheidende Frage, wie die Stücke ins Heute zu übertragen werden und weiterhin aufführbar sein können. Bei literarischen Stoffen scheint dies am einfachsten zu sein, da Shakespeare, indisches Versepos oder Cervantes gut als Folie für Aktuelles dienen können. Auch DDR-spezifische Gesellschaftskritik ist häufig gut ins Heute übertragbar, weil trotz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme ähnliche Probleme verhandelt werden. Größere Schwierigkeiten ergeben sich vielleicht bei im westlichen Kapitalismus spielenden Operetten/Musicals. Die Übersetzungsarbeit müsste hier vielschichtiger sein, ist aber nicht unmöglich, da sich etwa die heutige US-amerikanische Politik satirisch betrachten lässt.
Erfolgreiche Stücke
Zwei bei Bärenreiter · Alkor verfügbare Stücke aus dem zuletzt genannten Themenkomplex sind die in der DDR äußerst erfolgreiche Operette „In Frisco ist der Teufel los“ (die weit mehr als tausendmal gespielt wurde) von Guido Masanetz, Otto Schneidereit und Maurycy Janowski und die musikalische Gaunerkomödie „Hände hoch, Mister Copper!“ von Conny Odd/Wolfgang Böttcher. Beide zeigen, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt des „Volks“ gegen die zerstörerischen Pläne kapitalistischer Großunternehmer gewinnen kann. Ein Beispiel aus der Operettenproduktion auf literarischer Vorlage ist „Vasantasena“ von Guido Masanetz und Peter Ensikat, basierend auf einem alten indischen Stoff über die liebende Überwindung von Kastengrenzen. Masanetz tauchte dafür auf einer Indienreise tief in die indische Musik ein und verarbeitete die Eindrücke in seinem Werk.
Ein weiteres Stück im Kontext der literarischen Sujets ist „Bolero“ von Eberhard Schmidt und Otto Schneidereit, das im Spanien des 16. Jahrhunderts spielt. Die Dichter Cervantes und Lope de Vega treten auf, und der Komponist hat viel spanisches Kolorit beigemischt.
Als spannendes Gegenwartsstück soll das Musical „Irene und die Kapitäne“ von Conny Odd, Wolfgang und Ilse Böttcher herausgehoben werden, es entstand als Auftragswerk der Staatsoperette Dresden, ausgehend von einem DDR-typischen Patenschaftsvertrag zwischen dem Operettentheater und dem VEB Güterkraftverkehr. Die Künstlerin Irene trifft auf die Kraftfahrer, und die verhandelten Themen wie Wohnungsnot, fehlende Kindergartenplätze, Entfremdung zwischen Produktion und Kulturschaffenden, Arbeitsteilung in Partnerschaften, Gleichberechtigung, Schichtarbeit, Schwarzarbeit, überbordende Bürokratie usw. kommen uns auch heute noch sehr bekannt vor. Nicht nur der zu bessernde sozialistische Mensch, sondern auch unsere heutige Gesellschaft würde mit mehr Ehrlichkeit, Anpacken, Gemeinsamkeit viel mehr erreichen. Dies sind alles auch heute aktuelle Themen, aus denen Regie Potenzial schöpfen kann. Als Gemeinschaft über Generationen und unterschiedliche Lebensentwürfe hinweg zusammen anzupacken, das wäre doch eine Botschaft des Musicals, die auch heute trägt. Weitere Erfolgsstücke wie „Karambolage“ oder „Man liest kein fremdes Tagebuch“ (beide Odd/Janowsky) harren ebenfalls der Neuentdeckung.
Noch mehr aus dem leichten Genre
Auch weitere heitere Opern, Singspiele und Spielopern aus der reichen Musiktheaterproduktion der DDR-Zeit sind es wert, heute wiederentdeckt zu werden. Sie gehören nicht zum diskutierten „Heiteren Musiktheater“, sind aber ebenfalls im leichteren Genre anzusiedeln und von einer großen stilistischen Vielfalt gekennzeichnet. Georg Katzers „Das Land Bum Bum oder der lustige Musikant“ (Text: Rainer Kirsch) verhandelt im scheinbar harmlosen Gewand einer märchenhaften Kinderoper musikalisch-ästhetische Fragen und Themen wie Überwachung, Zensur und Diktatur. Die verschiedenen auf Basis von Büchners „ Leonce und Lena“ entstandenen Werke u. a. von Paul Dessau und Kurt Schwaen sind in ihrer Vielschichtigkeit und unterschiedlichen Stilistik eine Wiederentdeckung wert. Und auch die komische Oper „Prinzessin Zartfuß und die sieben Elefanten“ von Frank Petzold (Text: Albert Wendt) ist, kurz vor dem Ende der DDR entstanden, jazzig und gleichzeitig märchenhaft mit dem heute aktuellen Thema der „Body Positivity“ Garant für einen spannenden Musiktheaterabend.
In diese Reihe kann auch Ralf Hoyers „¡Ay, Don Perlimplín!“ gestellt werden, eine Opera grotesque für Schauspieler, Instrumente, Sprechchor und Tonband, basierend auf einem Text von Federico García Lorca. Es handelt sich um ein tragisch-groteskes Liebesdrama, das in absurder Weise Erwartungen, Spiegelungen, Enttäuschungen und Selbsttäuschungen, Träume, Illusionen usw. vorführt und ins Groteske wendet. Besonders überraschend und faszinierend ist die virtuose Musikalisierung und Rhythmisierung von Sprache, die eine partielle inhaltliche Entkernung der Dialoge bewirkt und deren musikalische Hülle zurücklässt. Hoyer arbeitet aber auch mit Tonbandzuspiel und barockem und neobarockem musikalischem Material und erschafft eine vielschichtige surreal-irritierende und auch komische Welt.
Katrin Stöck
(aus [t]akte 2/2025)



