Der Wunsch, die Stimme der Mutter zurückzugewinnen, ist Movens für einen amerikanischen Soldaten, drei Frauen zu ermorden. Miroslav Srnka hat daraus eine faszinierende Oper gemacht, die im Juni 2025 am MusikTheater an der Wien uraufgeführt wird.
Es ist ein eigentümlicher Kriminalfall, den der tschechische Komponist Miroslav Srnka als Thema für seine neue, nunmehr sechste Oper gefunden hat. 1942 ermordete der 24-jährige US-amerikanische Soldat Eddie Leonski, der als Private in einem Militärstützpunkt in Melbourne stationiert war, scheinbar wahllos drei junge Frauen. Relativ schnell wird der Mörder gefasst und von einem amerikanischen Militärgericht zum Tode verurteilt, nicht zuletzt, um mögliche Konflikte zwischen dem Militär und der Bevölkerung im Keim zu ersticken. So banal der Fall auf den ersten Blick ist, so übt er doch in Australien bis heute eine gewisse Faszination auf die Öffentlichkeit aus. Das geringe Alter des Mörders, die drei völlig zufälligen Opfer und nicht zuletzt die Besessenheit des Täters von weiblichen Stimmen haben dafür gesorgt, dass dieser Serienmord in Australien Teil eines kollektiven Gedächtnisses wurde.
Doch nicht der Mordfall selbst ist es, der Miroslav Srnka interessiert. „Voice Killer“ ist weder ein Kriminalstück, noch spielt das historische Umfeld des Zweiten Weltkriegs eine Rolle. „Das Vor und das Nach dem Mord ist das Spannende“, sagt Srnka, der seine Oper gewissermaßen aus der Perspektive des Täters komponiert hat, ohne dessen Taten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Nicht das äußere Geschehen ist es, das Srnka komponiert, sondern das innere, die Gedanken- und vor allem Empfindungswelt des in der Oper namenlosen Private und seiner Opfer Pauline, Ivy and Gladys. Im Zentrum der Handlung, die auf dem Libretto von Tom Holloway basiert, stehen daher auch nicht die Morde selbst, sondern die Situationen des Kennenlernens von Täter und Opfer.
Die drei Teile des Bühnenwerks entsprechen den drei Frauen, denen der Private begegnet; die Morde jedoch finden in den Zwischenspielen statt, die Srnka „Blurs“ nennt und in denen die Grenzen von Realität und Traum verschwimmen. Diese Blurs, deren metrisch freie Musik die Zeit quasi für eine eigene Theaterzeit öffnen, sind verschwommene Zwischenwelten, die mit der Ebene der realen Außenteile der Oper langsam überblendet werden. Einerseits reflektieren die Blurs den Bewusstseinsstrom eines psychisch kranken Serienmörders, andererseits reflektiert „Voice Killer“ insgesamt den Mechanismus der medialen Ausschlachtung von „spektakulären“ Serienmorden, bei dem die Person des Täters nachträglich zum tragischen Helden verklärt wird. Miroslav Srnka setzt dem eine komplizierte Brechung der Realität entgegen, in der die Figur des Private herangeholt und zugleich auf Distanz gehalten wird. Teil dieser Erzählstrategie ist die Figur des Gallo, seines besten Freundes, der dessen Entwicklung zum Mörder miterlebt und zugleich gerade nicht wahrnimmt. Anhand dieser Figur, zunächst als reiner Sidekick angelegt, stellt die Oper Fragen der eigenen Wahrnehmung von Unrecht und der Verantwortung in einer Gesellschaft. Die Gesellschaft selbst ist in Gestalt des Chores ständig präsent, und jede Figur erwächst im Grunde aus dem Kollektiv des Chores. Dicht geballte 24-stimmige Klangflächen bestimmen die lange Exposition, Instrumente treten erst viel später hinzu. Im Laufe der Oper dann wandelt sich die Rolle des Chores, Sänger und Sängerinnen werden zu Figuren des Stückes, zur Menschenmasse, zum Mob.
Das vielleicht wichtigste Motiv in „Voice Killer“ ist die menschliche Stimme. Den Satz „Wer singt, kann nicht atmen“, stellt Srnka seiner Partitur als Motto voran. Er verweist damit einerseits auf eine wesentliche Erfahrung des Singens – Atem ist für Gesang unabdingbar, aber jedes Atmen unterbricht das Singen – und andererseits auf die Verbindung von singenden Opfern und deren tödliche Strangulation. In jeder der drei tödlichen Begegnungen bittet der amerikanische Soldat sein späteres Opfer, für ihn zu singen, denn er sucht in jeder Frau die Stimme seiner eigenen Mutter, deren Schlaflieder ihm als Kind inmitten einer dysfunktionalen Familie einen Moment der Geborgenheit vermittelt hatten. Der vergebliche Wunsch, die Stimme der Mutter zurückzugewinnen, ist der Grund, Kontakt zu den Frauen aufzunehmen, aber auch, die singenden Frauen zu töten. Umso konsequenter für Srnka, dass die Mutter selbst, die nur als ferne Erinnerung in der Oper auftaucht, als einzige nicht singt, sondern als Schauspielrolle gestaltet ist.
Umgekehrt ist es gerade die Stimme, die den Private – wie anscheinend bereits sein historisches Vorbild – zum Außenseiter macht, zum „Weirdo“. Das Kippen der Stimme ins Falsett, das unkontrollierte, giggelnde schrille Lachen befremden die Mitmenschen und sind doch untrennbar Teil seiner Identität. Diese musikalische Spaltung der Figur ist auch eine dramaturgische Spaltung: „Die tiefe Baritonstimme ist das, was die Gesellschaft von einem Mann erwartet. Die hohe Stimme des Falsetts das Andere an ihm, das, was von den anderen als befremdlich abgelehnt wird“, erläutert Miroslav Srnka. Für die Frauen, besonders für Ivy und Pauline, hat er dafür Gesang in hoher, fast stratosphärischer Lage geschrieben.
Der komplizierte Aufbau der Oper, das Verschmelzen von Realitäts- und Traumebenen, von Trauma und Wunscherfüllung, wird durch ein der Partitur innewohnendes Zeitkonzept zusammengehalten: „Voice Killer“ hat keinen linearen Zeitverlauf, sondern einen spiralförmigen Ablauf mit Beschleunigungen und Verlangsamungen. In der sehr langen und langsamen Exposition, die Srnka als ein „stillstehendes Unbehagen“ beschreibt, wird der Zuhörer in ein Geschehen hineingezogen und verwächst mit einer ganz eigenen Zeit- und Ausdrucksordnung des Werkes. Die Übergänge in die einzelnen Szenen der Oper sind als ständiger Verlauf von zeitlicher Ordnung in zeitloses Rauschen gestaltet – und eben auch wieder zurück. Das Ziel dieser „Zeitspirale“ über die Gesamtlänge des hundert Minuten langen Werks ist der dritte Mord, den der Private begeht. In diesem Moment, in dem Tat, Verhaftung, Urteil und Vollstreckung zusammenfallen, treffen alle Erzähler und Zeitebenen der Oper aufeinander.
„Voice Killer“ wird seine Uraufführung am 13. Juni 2025 im neu renovierten MusikTheater an der Wien erleben, das auch den Auftrag für das Werk erteilt hat. Im Orchestergraben wird das Klangforum Wien Platz nehmen, und der Arnold Schoenberg Chor übernimmt den komplexen Chorpart des Werkes. Der Bariton Seth Carico wird die Titelfigur singen und Julian Hubbard die dessen Freundes. Den drei Mordopfern geben Caroline Wettergreen, Holly Flack und Nadja Stefanoff Stimme und Gesicht. Außerdem wird der Sänger Stephan Loges als Vater und die Schauspielerin Kate Strong in der Rolle der Mutter zu erleben sein. Der amerikanische Dirigent Finnegan Downie Dear wird das Werk dirigieren, die Inszenierung übernimmt Cordula Däuper.
Kai Weßler (MusikTheater an der Wien)
(aus [t]akte 1/2025)