Im Rahmen der Reihe L’Opéra français erscheint eine Neuausgabe von Charles Gounods Faust. Von diesem Werk existieren bekannterweise unterschiedliche Versionen. Wie geht der Herausgeber der Neuedition vor? Fragen an Paul Prévost.
Faust hat eine komplizierte Rezeptionsgeschichte, die sich in den üblichen Fassungen niederschlägt. Was muss man zur Aufführungsgeschichte der Oper wissen?
Paul Prévost: Carles Gounod schrieb über Roméo et Juliette: „Das Einfügen von Rezitativen sollte Gegenstand einer separaten Fassung sein, wie beim Faust; die Existenz einer Erstfassung ist damit keineswegs in Frage gestellt – aus vielerlei Gründen will ich von einer alleingültigen Version nichts wissen“ (Brief vom 28. September 1866). Diese Äußerung hat zur Auffassung geführt, dass die von 1859 bis 1866 im Pariser Théâtre-Lyrique aufgeführten Fassungen mit gesprochenen Dialogen von den ausschließlich gesungenen Versionen, wie sie uns die Tradition überliefert, zu unterscheiden sind.
Rufen wir uns kurz die Geschichte des Faust in Erinnerung. Die erste Aufführung mit Rezitativen fand im Februar 1860 in Straßburg statt, und in dieser Form kam das Werk dann auf die Bühnen in Frankreich und der ganzen Welt. Eine Ausnahme davon bildet die französischsprachige Stadt Brüssel, die für eine lange Zeit gesprochene Dialoge bevorzugte. Die Fassung von 1860 diente als Grundlage für die zweite Ausgabe des Klavierauszugs und der Partitur, die beide in Paris veröffentlicht wurden. In der Folge wurden an dieser Version etliche relativ unbedeutende Kürzungen und Änderungen vorgenommen, wovon die bekannteste die Einfügung von Valentins Kavatine im 2. Akt darstellt. Gounod schrieb sie 1863 für London, war jedoch strikt dagegen, sie in die Pariser Produktionen der Oper aufzunehmen. Die meisten Änderungen betrafen den 4. Akt: Siebels Romanze wurde gestrichen und durch eine andere, die später ebenfalls wegfiel, ersetzt; die Nummern wurden umgestellt, und es kam zu verschiedenen Transpositionen.
Eine endgültige oder „offizielle“ Gestalt des Werks zu erfassen, ist also schwierig; die Entscheidung zwischen dem ursprünglichen Projekt des Komponisten und der ständigem Wandel unterworfenen Werkgeschichte erwies sich als unmöglich. Wir verfügen jedoch über die Fassung, die für die Erstaufführung des Werks an der Pariser Opéra im Jahre 1869 eingerichtet wurde. Es ist immer wieder zu lesen, dass Gounod sich kaum mit dieser Öffnung hin zur Grand Opéra abgab, abgesehen davon, dass er für diesen Anlass ein Divertissement (Ballettmusik und Arie) komponierte. Dabei gibt es im entsprechenden Regiebuch mehrere Hinweise auf die Anwesenheit der Librettisten und des Komponisten bei den vorbereitenden Sitzungen und den Proben.
Es hat sich also geradezu aufgedrängt, für die Neuedition die Version von 1869, die ja gewissermaßen durch das Ereignis fixiert wurde, als Referenz zu wählen. Selbstverständlich steht es jedem Nutzer frei, anhand unseres Einführungstextes und des kritischen Apparats eine andere Fassung des Werks herzustellen. Ein von uns für die gesamte Reihe L’Opéra français festgelegtes Prinzip erleichtert Umstellungen, weil Alternativfassungen in die Werkchronologie eingefügt wurden, so dass auf das Blättern verzichtet werden kann. Wir haben jeweils zusätzliche Takte eingefügt, und der Nutzer kann so Seite für Seite vorgehen und muss lediglich an manchen Stellen kurze Passagen überspringen.
Standen Ihnen für diese Edition neue Quellen zur Verfügung?
Das von der Bibliothèque nationale de France im Jahre 1977 erworbene Autograph wurde bis heute nie ausgewertet. Es war uns bei unserem Bemühen, Artikulationen und Phrasierungen präzise anzugeben, von großem Nutzen. Ebenso hilfreich war die handschriftliche Kopie, die im 19. Jahrhundert als Grundlage für die Aufführungen an der Opéra de Paris diente und uns über die Geschichte des Werks an diesem Haus in Kenntnis setzt. Außerdem haben wir selbstverständlich sämtliche zu Lebzeiten Gounods gedruckten Editionen berücksichtigt.
Eine neue Edition bedeutet ja bestimmt auch neue Musik, unbekannte Passagen …
Ganz und gar nicht! Neu an dieser Edition ist ihre Geschichtstreue. Es gibt zwei Kategorien moderner Faust-Editionen. Die eine hat sich in vielen Entwicklungsstufen aus der Tradition ergeben; so entstand bis in die 1930er Jahre eine Fassung, die bis in unsere Tage mehr oder weniger unverändert blieb. Bei der anderen Kategorie handelt es sich um Herausgebereditionen: Ein Musiker oder Musikwissenschaftler setzt dabei seine eigenen, für ihn richtigen Vorstellungen des Werks um (ungefähr wie Viollet-le-Duc, der die Türme der Pariser Kathedrale Notre-Dame mit Spitzen versehen wollte); er sucht seine persönliche Vision durchzusetzen, gestaltet das Werk nach seinem Gutdünken, geht über das hinaus, was der Komponist geplant hat, und kümmert sich auch nicht um die Aufführungstradition.
Unser Standpunkt hat mit diesen beiden Möglichkeiten nichts zu tun. Es geht uns darum, die historische Realität zu rekonstruieren und dem Nutzer gleichzeitig größtmögliche Freiheit zu gewähren. Er kann sich nach unserer Fassung richten; wir bieten ihm aber auch die Möglichkeit, mit Hilfe des kritischen Apparats eine andere historische Version des Werks zu etablieren oder sich von der historischen Wahrheit, die ja viele Gesichter hat, ganz zu lösen – wenn er sich nur in der Materie gut genug auskennt.
An Gounods Musik wurde oft eine zu ausgeprägte Leichtigkeit beanstandet, ein Mangel an dramatischer Wucht und die wiederholte Anwendung derselben Formeln. Kann man denn mit Faust das Publikum des 21. Jahrhunderts noch begeistern?
Aber sicher! Verdi und Wagner wiederholten sich auch. Als man dies Gounod vorwarf, verteidigte er sich und sagte, außer Gounod könne er nichts anderes komponieren. Faust ist eine gesungene Liebesgeschichte, und die Sinnlichkeit des Gesangs bleibt im Rahmen dessen, was der katholische Glauben zuließ; es ist eine Art Katechismus der menschlichen und göttlichen Liebe, die für Gounod von derselben Natur sind. Ein junger Dirigent sagte mir neulich im Vertrauen, dass dies alles als „ein wenig schwerfällig“ empfunden werden könnte. Seine Überlegungen führten ihn zu dem Schluss, dass es angebracht sei, die Tempi zu steigern. Wie unglücklich! Natürlich ist übermäßiges Pathos fehl am Platz, es sollte vielmehr ein raffiniertes, differenziertes und fein gezeichnetes Musizieren angestrebt werden. Auch deshalb haben wir uns ganz intensiv mit den Vortragsbezeichnungen etwa zur Artikulation befasst, insbesondere wie sie im Autograph zu finden sind.
Fragen: Annette Thein
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
(aus [t]akte 1/2014)