1762 – 1769 – 1774 – 1859: Zählt man die Bearbeitung von Hector Berlioz hinzu, gibt es vier Fassungen von Glucks Orfeo, die sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden. Gabriele Buschmeier stellt sie vor.
Wie kaum eine andere von Glucks Opern ist die 1762 in Wien uraufgeführte „Azione teatrale per musica“ Orfeo ed Euridice als ästhetischer Wendepunkt in die Musikgeschichte eingegangen, denn mit ihr wird die Reform des spätbarocken Musiktheaters assoziiert. Gluck hat uns bekanntlich mehrere Fassungen des Werkes hinterlassen, so dass man nicht von dem gluckschen Orfeo sprechen kann. Die Orpheus-Opern gehören auch im Gluck-Jahr 2014 zu den meistgespielten seiner Werke und bestätigen, dass sie zu den beliebtesten des Repertoires zählen.
Von der Bühnenpraxis wurde die Tatsache bisher nicht beachtet, dass Gluck sein für das Wiener Burgtheater komponiertes Werk bereits sechs Jahre später umgearbeitet hat. Im Jahr 1768 war er nämlich von Maria Theresia gebeten worden, für die Hochzeit ihrer Tochter, Erzherzogin Maria Amalia, mit dem Infanten Ferdinand von Spanien eine Festoper zu komponieren. Er hatte den Auftrag angenommen und die aus mehreren Einaktern bestehenden Feste d‘Apollo komponiert, deren letzter Teil der Atto d’Orfeo ist, eine Neufassung seiner Wiener „Azione teatrale“, die zum ersten Mal am 24. August 1769 im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten in Parma aufgeführt wurde (s. [t]akte 2/2013, S. 8). Wie im 18. Jahrhundert üblich, wurde das Werk schon kurz nach den Uraufführungen in Wien und Parma vor allem durch die Sänger der Hauptrollen in ganz Europa verbreitet. Dies waren insbesondere die beiden, die die Rolle des Orfeo verkörpert hatten, nämlich Gaetano Guadagni und Giuseppe Millico, die das Werk zunächst nach London brachten. Danach war es schon bald in Bologna, Florenz, Neapel, München, Kopenhagen, Stockholm, Dublin und St. Petersburg zu hören. Je nach Aufführungsort wurde in den 1770er Jahren das Werk durch Einschübe von Arien und Tänzen anderer Komponisten oft zu Pasticci erweitert, da es für einen üblichen Opernabend zu kurz war. Auch fanden einzelne Nummern, allen voran die Arie „Che farò senza Euridice“, weite Verbreitung.
Fünf Jahre nach der Aufführung in Parma nahm sich Gluck seiner Orpheus-Oper zum dritten Mal an: Am 2. August 1774 wurde seine Tragédie-opéra Orphée et Euridice in der Pariser Académie Royale de Musique uraufgeführt. Diese französische Fassung stand dann bis 1800 fast ununterbrochen, aber mit vielen Umbesetzungen und Eingriffen in die Partitur, auf dem Spielplan in Paris. Der Gluck-Enthusiast Hector Berlioz richtete – ausgehend von der 1764 bzw. 1774 in Paris gedruckten italienischen und französischen Fassung – eine neue Aufführungspartitur ein, die für eine Neuinszenierung im November 1859 am Théâtre lyrique mit Pauline Viardot-Garcia als Orphée verwendet wurde. Waren schon zu Glucks Lebzeiten Mischfassungen seiner Orpheus-Opern auf die Bühne gebracht worden, bürgerten sich diese mit Berlioz‘ Fassung fest ein. Dabei wurden die Opern immer auch an die jeweiligen Aufführungsbedingungen angepasst, und die Frage nach dem Stimmfach des Orpheus blieb stets virulent. Erst mit den wissenschaftlich-kritischen Editionen im Rahmen der Gesamtausgabe rücken die originalen Fassungen wieder in den Fokus der historisch informierten Aufführungspraxis.
Im Hinblick darauf, dass im Gluck-Jubiläumsjahr erstmals seit der Uraufführung in Parma 1769 auch der einaktige Atto d’Orfeo als wissenschaftlich-kritische Edition der Gluck-Gesamtausgabe wieder für die Bühne zur Verfügung steht, sollen im Folgenden die Unterschiede der vier verschiedenen Fassungen des Werkes – der drei von Gluck autorisierten und der Revision von Berlioz – dargestellt werden. Denn neben den unterschiedlichen Stimmlagen der Titelrolle und verschiedener Orchesterbesetzungen unterscheidet sich auch die formale Anlage der vier Fassungen.
Die Unterschiede hängen natürlich auch mit den Aufführungskontexten und -bedingungen in Wien, Parma und Paris zusammen. So standen für die vier Produktionen jeweils verschiedene Sänger zur Verfügung. Für die Titelpartie der von Gluck geleiteten Wiener Uraufführung war der Alt- bzw. Mezzosoprankastrat Gaetano Guadagni verpflichtet worden; auf seine Stimmlage hatte Gluck die Rolle zugeschnitten. In Parma übernahm die Titelpartie der ebenso bekannte Soprankastrat Giuseppe Millico. Damit war die entscheidende Änderung, nämlich die Transposition der Titelrolle verbunden, die Gluck bei seiner Umarbeitung für Parma vornehmen musste. Statt eines Ambitus von a bis e’’ in der Wiener Fassung bewegt sich die Stimme in der Parma-Fassung zwischen d’ und a’’ und die Arie „Che farò senza Euridice“ steht somit in Es- statt in C-Dur. Im Übrigen resultierte aus der Transponierung der Titelrolle aber auch eine grundlegende Änderung der Tonartendisposition des gesamten Werkes. Davon betroffen sind insbesondere die großen, symmetrisch angeordneten Chorblöcke. Die beiden anderen Singstimmen, Euridice und Amor, blieben hinsichtlich ihrer Stimmlage in Parma gleich, Gluck hat sie so gut wie nicht verändert.
In Paris, wo es traditionell keine Kastratensänger gab und Helden und Liebhaber in der Tragédie lyrique mit einem hohen Tenor, dem sogenannten Haute-contre, besetzt wurden, hat Gluck die Titelrolle zu einer dramatischen Tenorrolle umgearbeitet und wiederum transponiert. Die Arie „Che farò senza Euridice“ („J’ai perdu mon Euridice“) steht jetzt in F-Dur. In Paris war der Sänger Joseph Le Gros verpflichtet worden, der auch in fast allen übrigen Pariser Opern Glucks als Protagonist auftrat und der insbesondere wegen seiner darstellerischen Fähigkeiten bekannt war. Gluck hat ihm eine ausgesprochen exponierte Tenorpartie auf den Leib geschrieben. Diese war auch in der Nachfolge nur sehr schwer zu besetzen, was dazu führte, dass die Rolle für spätere Sänger durch erneute Transpositionen singbar gemacht werden musste. Die Aufführungstradition, die Titelrolle des Orpheus von einer weiblichen Altstimme singen zu lassen, wurde in den frühen 1820er Jahren dann zunächst in Berlin begründet, wo man auf die italienische Fassung in der Originalsprache zurückgriff. Auch in Paris wurde bereits in den 1840er Jahren bei einigen Konzerten der Orpheus von einem weiblichen Alt gesungen, allerdings nur in Ausschnitten. Später verband sich diese Tradition mit der 1859 in Paris begründeten, und es war rund hundert Jahre lang üblich, eine Mischfassung mit einer Altistin in der Rolle des Orpheus aufzuführen.
Die Aufführung des Orphée mit Pauline Viardot-García war ein überwältigender Erfolg in Paris. Für diese Fassung hatte Berlioz mit der Sängerin zusammengearbeitet und eine Auswahl aus beiden Partituren Glucks getroffen. Aus Glucks französischer Fassung übernahmen sie vor allem die Szenen, in denen Orphée nicht singt. Die Szenen, in denen er zusammen mit Euridice und l’Amour auftritt, behalten die Stimmlage der Pariser Fassung bei. In fast allen Soloszenen Orphées wird die Stimmlage der Wiener Fassung übernommen, allerdings mit der Instrumentation der Pariser Fassung.
Auch im Bereich des Orchesters standen in Wien, Parma und Paris ganz andere Instrumente zur Verfügung. Das Orchester des Burgtheaters war bei der Uraufführung in Wien außer mit Flöten, Oboen, Fagotten und Trompeten auch mit Zinken, Posaunen, Chalumeaux und Englischhörnern besetzt, die in Parma allerdings fehlten. An der Académie Royale in Paris waren ebenfalls keine Zinken, Chalumeaux und Englischhörner üblich, so dass Gluck in seiner Partitur stattdessen Klarinetten und Oboen einsetzte. Neben den Trompeten beharrte er aber auch auf den in der Académie nicht üblichen Posaunen und baute diese Stimmen sogar noch aus. Während das Bassfundament in der italienischen Fassung auch das Cembalo umfasst, wurde dies in Paris nicht verwendet. Dafür waren Violoncelli und Kontrabässe traditionell stark besetzt, und Gluck gestaltete ihre Stimmen differenzierter als in der italienischen Fassung. Berlioz nahm die wichtigste Neuerung in der Instrumentation des ersten Akts vor. Die Zinken der italienischen Fassung wurden durch zwei Cornets à pistons ersetzt, die für Berlioz typisch sind. Im Übrigen setzte er auch Trompeten ein. Die Klarinetten von Glucks französischer Fassung behielt er bei. Auf der Bühne wurden eine Solo-Oboe und eine Klarinette platziert, daneben zwei Violinen, eine Bratsche und ein Violoncello, die bei den Echoeinwürfen sowie in der Romanze „Objet de mon amour“ im ersten Akt zum Einsatz kommen.
Hinsichtlich der formalen Anlage ist festzustellen, dass Gluck die Wiener Urfassung bis auf das Schlussballett für die Festoper in Parma übernommen hat. Der Atto d’Orfeo besteht aber nur aus einem einzigen Akt bzw. sieben Szenen. Die Abfolge aller Rezitative, Arien, Chöre und Instrumentalsätze bleibt bis auf den Schluss vollkommen identisch. Für die französische Fassung wurde dann zunächst das originale Libretto Calzabigis von Pierre-Louis Moline ins Französische übersetzt und an die Prosodie angeglichen. Sodann hat Gluck bei der Umarbeitung der Partitur möglichst viel von der ursprünglichen Vorlage übernommen und diese durch Einlagen gestreckt, nicht zuletzt auch, um eine abendfüllende Oper vorzulegen. Am Ende des ersten Aktes wurde die Ariette „L’espoir renaît dans mon âme“ hinzugefügt und am Ende des zweiten Aktes nach französischem Geschmack eine große Tanzszene der Furien und seligen Geister als Handlungsballett sowie Euridices Szene mit Chor „Cet asile aimable“. Schließlich wurde an den Schluss der französischen Fassung ein weiteres großes Ballett im Stil der französischen Tragédie lyrique gesetzt. Während die ursprünglichen Arien, Chöre und Tänze weitgehend unverändert integriert wurden, mussten aber die Rezitative an die französische Sprache angepasst und hinsichtlich Singstimmen und des in Frankreich üblichen Streichersatzes komplett neu komponiert werden. Sie sind gegenüber dem Original wesentlich knapper und dramatischer, so dass die französische Fassung des Werkes eine ganz neue und eigenständige Gestalt bekam. Für die Neuinszenierung von 1859 wurde zunächst Molines französisches Libretto von Louis Viardot bearbeitet. Aus dem italienischen Libretto wurden dabei nur wenige Elemente übernommen. Der in formaler Hinsicht sichtbarste Eingriff zeigt sich in der Ausweitung von drei auf vier Akte. Die Szenen in der Unterwelt und im Gefilde der Seligen bilden zwei verschiedene Akte. Den Tanz der Furien im zweiten Akt und die Balletteinlagen kürzte Berlioz ebenso wie den Chor, der den dritten Akt beschlossen hatte. Stattdessen ersetzte er diesen durch den Chor „Le dieu de Paphos“ aus Glucks Echo et Narcisse.
Gabriele Buschmeier
(aus [t]akte 2/2014)