Die komplizierte Quellenlage hat authentische Aufführungen von Die Sache Makropulos immer erschwert. Nun gibt es eine überzeugende Urtext-Edition.
Seit der ersten Einstudierung von Leoš Janáčeks Oper Věc Makropulos (Die Sache Makropulos) sind neunzig Jahre vergangen. Im Laufe dieser Zeit ist es nicht gelungen, eine allgemeingültige Editionsmethodik für die Arbeit mit Janáčeks ungewöhnlicher Notation zu entwickeln. Mehr oder weniger erfolgreich versuchten verschiedene Herangehensweisen mit den Eigenheiten des musikalischen Texts zurechtzukommen, indem sie, wenn nicht das ideale, so zumindest das am wenigsten schädliche Verhältnis zwischen einer respektvollen Konservierung der groben Notation und ihrer Anpassung an die Bedürfnisse der Aufführungspraxis ausloteten. Die neue Ausgabe des Bärenreiter-Verlags bietet eine quellennahe Rekonstruktion der Oper, wie sie bei der Uraufführung geklungen haben mag, die sich von der späteren Fassung aber nur in Details unterscheidet. Gleichzeitig schlägt sie eine Reihe von deutlich gekennzeichneten Eingriffen vor, die Tomáš Hanus aufgrund seiner Erfahrung als Dirigent hinzufügte.
Quellenlage
Die Schwierigkeit und Einzigartigkeit dieser Partitur Janáčeks zwingt Interpreten und Wissenschaftler zu einer Vorgehensweise, die sich von den üblichen Gepflogenheiten unterscheidet. Insbesondere drei Herausforderungen stellen sich:
1. die ungewöhnliche Spontaneität von Janáčeks Kompositionsprozess
2. die Abweichungen zwischen den beiden autorisierten Abschriften der Partitur
3. die außerordentlichen Anforderungen an die Interpreten
Beginnen wir mit der besonderen Stellung des Autographs, das auch in anderen Werken Janáčeks oft nicht die Hauptquelle ist, in der man die definitive Form des Werks findet. Diese bildete sich nämlich schrittweise heraus, häufig erst während der Zusammenarbeit mit dem Kopisten des Autographs, während Janáček weiter komponierte bzw. korrigierte. Dadurch entstand eine autorisierte Abschrift, die den Wert der Hauptquelle erlangt. So war es auch bei Věc Makropulos, auch wenn das 1925 notierte Autograph bereits nahe an die endgültige Fassung herankommt, wie sie sich in zwei von Janáček autorisierten Abschriften erhalten hat. Diese beiden Abschriften liefern die größtmögliche Annäherung an das Werk, und sie unterscheiden sich nur in Details. Die erste Abschrift fertigte Václav Sedláček für den Verlag, die Universal Edition Wien, die zweite Jaroslav Kulhánek für das Nationaltheater in Brünn, wobei die Vorlage für ihn nicht das Autograph war, sondern die bereits existierende Abschrift Sedláčeks.
Die zweite Abschrift Kulháneks wurde bei der ersten Aufführung des Werks in Anwesenheit des Komponisten am 18. Dezember 1926 als Dirigierpartitur verwendet. Janáčeks Anwesenheit während der Proben und seine Zusammenarbeit mit dem Dirigenten der Premiere, František Neumann, sind bedeutende Belege für die Authentizität der Brünner Abschrift, die auch die Hauptquelle der vorliegenden Edition ist. Man muss hinzufügen, dass die Fassung letzter Hand die Wiener Quelle darstellt, also die Abschrift von Václav Sedláček, die Janáček über die Korrespondenz mit der Universal Edition Wien korrigierte. Sie wurde bei der Einstudierung des Werks am Prager Nationaltheater verwendet (Premiere am 1. März 1928 in Anwesenheit des Komponisten). Janáček starb kurz danach, am 12. August 1928, knapp zwanzig Monate nach der Uraufführung in Brünn.
Es ist interessant – und für Janáček typisch –, dass die Korrekturen für die Uraufführung und die vom Komponisten nach Wien geschickten Korrekturen nicht identisch sind. Für den heutigen Herausgeber und die Interpreten bedeutet die Existenz von zwei verschiedenen Fassungen neben Komplikationen vor allem eine Bereicherung. Beide autorisierten Abschriften von Věc Makropulos entwickelten sich in Zusammenarbeit mit dem Komponisten weiter; die Brünner Version, d. h. die Abschrift Kulháneks, bezieht ihre Relevanz aus der engen persönlichen Beteiligung des Komponisten an der Uraufführung, die zu weiteren Korrekturen führte.
Brünn 1926: Eine gelungene Uraufführung
Die Fassung der Brünner Uraufführung ist ein wesentliches Stadium in der Entwicklung der Oper und legt diese in ausgereifter Form vor. Die Abschrift Kulháneks hat zudem den Vorteil, dass František Neumann (1874–1929) aus ihr dirigierte, ein erstklassiger Dirigent, dem Janáček sehr vertraute. Seit 1919, als er auf Vorschlag des Komponisten an der Brünner Oper dirigierte, leitete er ebenso die dortigen Aufführungen von Janáčeks Opern, einschließlich der Uraufführungen von Šárka, Katja Kabanowa, Das schlaue Füchslein – und eben der Sache Makropulos. Janáčeks Zufriedenheit mit dieser letzten Uraufführung belegt ein Dankesbrief, den er den Mitgliedern des Orchesters am Heiligabend 1926 sandte: „Und Sie haben das so toll unter dem Dirigat von Neumann hinbekommen – und ja, ich habe es auch hinbekommen.“
Im Einklang mit der Tradition der Janáček-Interpretation und auch mit der spezifischen Brünner Tradition, deren Absicht es war, Janáčeks Notation in eine leserliche, real spielbare und klanglich gut funktionierende Form zu „übersetzen“, enthält auch die neue Ausgabe eine Reihe von Anmerkungen für den Dirigenten, Bearbeitungen der Dynamik, Vereinheitlichungen der Phrasierung, Überarbeitungen von nicht spielbaren oder unleserlichen Stellen sowie Ossia-Vorschläge. Transkribierte man Kulháneks Abschrift im „Rohzustand“, wäre sie nur schwer verständlich, und die Absichten des Komponisten würden nicht klar daraus hervorgehen, denn die Abschrift enthält nur wenige Angaben zu Tempo, Dynamik, Phrasierung und Artikulation, die einander oft sogar widersprechen. Die Abschrift birgt zudem nicht geringe Probleme im Bereich der klanglichen Ausgewogenheit und der Dynamik. Zu den großen Fragezeichen gehören auch die Tempoübergänge, die bei Janáček häufig und für die organische Gestalt des Werkes so wesentlich sind. Dies alles muss in einer Edition abgewogen und eine praktische Lösung angeboten werden. Die neue Edition berücksichtigt daher eine Reihe von Anmerkungen, die von František Neumann in Zusammenarbeit mit dem Komponisten stammen, sowie von weiteren frühen Interpreten. Tomáš Hanus adaptierte und ergänzte sie, damit sie so treu wie möglich, jedoch technisch durchführbar und vom Gesichtspunkt der Notenschrift aus lesbar die praktische Aufführungsform des Werkes vermitteln. Die ursprüngliche Schicht der Quelle ist aber stets sichtbar davon zu unterscheiden. Die Stellen, die stärker bearbeitet werden mussten, weil sie unleserlich bzw. praktisch nicht aufführbar waren, sind als „ossia“ gekennzeichnet oder werden im Kritischen Bericht in ihrer ursprünglichen Lesart angeführt.
Wenige Änderungen – viel Interpretation
Die Auswertung der Partiturabschrift Kulháneks, die mit schwarzer Tinte geschrieben ist und autographe Korrekturen des Komponisten enthält, erbrachte auch etliche hörbare Veränderungen gegenüber der bekannten Form von Věc Makropulos, beispielsweise die Tonhöhen bei dem spannungsvollen Moment vor Ziffer 94 im ersten Akt: Ähnlich wie sich die Protagonisten ins Wort fallen, greifen auch die zwei Ganzton-Tonleitern ineinander, wodurch eine deutlich dissonante, trotzdem aber harmonisch logische Faktur entsteht. Im zweiten Akt gehört die üblicherweise Krista zugeschriebene Replik ihrem Freier Janek – er ist es, der auch nach Čapek auf Kristas Frage, ob Marty jemanden mag, mit den Worten antwortet: „Aber sicher doch“.
Kulháneks Partitur wurde im Brünner Theater über Jahrzehnte hinweg verwendet, und so sind in ihr eine große Menge schwer unterscheidbarer späterer Schichten enthalten. Es war deshalb wichtig, die ursprüngliche Schicht (einschließlich der Autographkorrekturen) freizulegen, um zu ihr zurückkehren zu können. Die späteren Ergänzungen wurden getilgt bzw., wo es sich um die Korrektur von Fehlern handelt, im Kritischen Bericht kommentiert. Die Korrekturen des Komponisten mit roter Tinte widersprechen sich manchmal und blieben unvollendet, deshalb war es nicht immer möglich, sie in den Hauptnotentext aufzunehmen. Viele Ergänzungen der Instrumentierung aus späterer Zeit wurden einfach eliminiert. Eine gewisse Ausnahme bildet die Erweiterung der Zweistimmigkeit der Posaunen zur Dreistimmigkeit, die in der Quelle mit Bleistift vorgenommen wurde; diese sehr hörbare Veränderung der Harmonie erscheint in eckigen Klammern und bietet somit die Möglichkeit der Wahl.
Ein großer Vorteil der Neuausgabe ist ihre Praktikabilität. Die Herausgeber entwickelten eine editorische Sprache, die es ermöglicht, Eingriffe in die Hauptquelle sofort auf der jeweiligen Seite zu sehen. Außer den üblichen eckigen Klammern und der Strichelung werden oft Fußnoten verwendet, vor allem hinsichtlich der Dynamik, die man an vielen gesangsbegleitenden Stellen ausgleichen musste. Die ursprüngliche Dynamik aus Kulháneks Abschrift ist immer in der Anmerkung auf der Seite selbst vermerkt. Auch Eingriffe in den rhythmischen Verlauf, die die Spielbarkeit mancher Stellen erforderte, werden stets direkt auf der Seite kommentiert, um diese mit der ursprünglichen Notierung zu konfrontieren. So wurde beispielsweise das Motiv der kleinen Fanfare in der ersten Szene, das erst als Achteltriole notiert und später von Kulhánek in Zweiunddreißigstel korrigiert wurde, in eine Sechzehnteltriole geändert, als praktische Übersetzung einer gedachten Verschärfung des Rhythmus. Diese Eingriffe, die aus der reichen Erfahrung von Tomáš Hanus mit dem Werk rühren, wollen sich nicht als einzige, objektiv richtige aufdrängen; sie sollen schlicht als praktische Lösungen dienen. Ein besonderer Fall sind die rhythmischen Ossia-Stellen zum Zweck einer möglichst guten Textverständlichkeit und im Interesse einer genauen Wiedergabe. Dies betrifft beispielsweise die Replik der Emilia Marty aus dem ersten Akt. Ebenso sind auch einige praktische Empfehlungen für Passagen motiviert, die nur schwer zu artikulieren sind.
Im Einklang mit den originalen handschriftlichen Stimmen der Uraufführung, die im Prinzip der grundlegenden Schicht von Kulháneks Abschrift entsprechen, bieten die Herausgeber eine Lösung mit einem Spieler für die dritte Klarinette und die Bassklarinette an – auch wenn die Partitur stellenweise zwei Musiker vorsieht. Auch diese Stellen sind durch „ossia“ bezeichnet. Die Herausgeber bieten dem Orchester außerdem an geeigneten Stellen (natürlich wieder in eckigen Klammern) in Form von Apostrophs und Fermaten die Möglichkeit an zu atmen.
Der Konflikt mit Max Brod
Bei der Einrichtung des Librettos ging Janáček konsequent von Karel Čapeks bekanntem Theaterstück aus. Es ist faszinierend, wie Janáček durch einfaches Streichen oder Umgruppieren von Repliken die Konversationskomödie in ein existenzielles Drama verwandeln konnte.
Demgegenüber ging Max Brod bei der deutschen Übersetzung von Janáčeks Opern etwas willkürlich vor, wenn auch getragen von der guten Absicht zu helfen. Er zwang Janáček sogar dazu, eine Replik im tschechischen Original zu ändern. Wie die Korrespondenz zwischen beiden Männern und der Universal Edition belegt, konnte sich Janáček mit dieser Änderung nie abfinden und autorisierte sie nicht. Es handelt sich um eine Stelle im dritten Akt, als Elina Makropulos nach überstandener Ohnmacht aus dem Schlafzimmer zurückkehrt. „Wundervoll war’s, wie der Tod mich zart angerührt. Und davor hab ich Angst gehabt?“ – mit diesen Worten wollte Brod angeblich die Wende des Geschehens am Ende motivieren, als Elina auf ihren Anspruch auf die Zauberformel verzichtet. Janáček hatte jedoch nicht den Eindruck, dass der Tod in irgendeiner Weise angenehm sein könne, und protestierte wiederholt gegen diese Änderung. Die Edition kehrt deshalb zur ursprünglichen Fassung von Janáček und Čapek zurück, in der Elina unsentimental und prosaisch auf Kopfschmerzen verweist: „Pardon, dass ich kurz von hier verschwunden bin. So geht’s seit zweihundert Jahren“.
„Ich, der ich mich im Ton verneige, wenn ein Windhauch das Gras beugt“ – mit diesen Worten begründete Janáček in einem Brief an Brod im November 1926, wie wichtig es sei, das Libretto beizubehalten, so wie er es sich vorstellte. Brods Eingriffe in das Libretto hätten nämlich eine Reaktion in der Musik erfordert. Für die neue Urtextedition wurde deshalb eine neue, originalgetreue deutsche Übersetzung angefertigt. Sie stammt von Kerstin Lücker und hatte am 13. Februar 2016 Premiere im Tiroler Landestheater in Innsbruck.
Die Neuausgabe ist eine typische Urtextedition im engeren Sinne des Wortes – eine Ausgabe einer gewählten Quelle, also von Kulháneks Abschrift der Partitur, allerdings unter Berücksichtigung weiterer Quellen und mit der Korrektur offensichtlicher Fehler. Wichtig war neben den handschriftlichen Stimmen auch die Abschrift des Klavierauszugs mit den Regie- und Bühnenbemerkungen von Ota Zítek, dem ersten Regisseur der Oper. Dank der Erfahrungen aus der Aufführungspraxis, die sich erkennbar in den Interpretationsanmerkungen äußern, bietet die Neuausgabe der Fassung der Brünner Uraufführung eine bereichernde Alternative zu den historischen und den modernen Editionen. Es muss nicht daran erinnert werden, dass die Oper Věc Makropulos, deren deutsche Erstaufführung am 14. Februar 1929 in Frankfurt am Main auch den jungen Theodor W. Adorno fesselte und ihn zu einem Vergleich mit Franz Kafka veranlasste, zu den Schätzen der internationalen Opernliteratur zählt.
Jonáš Hájek / Tomáš Hanus / Annette Thein
(aus [t]akte 1/2016)