Wie so oft, hat auch bei Bellinis Norma die Aufführungstradition den Urtext überlagert. Nun liegt eine Ausgabe vor, die Bellinis Absicht so nahe wie möglich kommt.
Als Cecilia Bartoli 2010 im Konzerthaus Dortmund unter der Leitung von Thomas Hengelbrock ihr Rollendebut als Norma gab, war dies ein Wagnis – und wurde ein triumphaler Erfolg. So titelte nicht nur die F.A.Z., die Presse allgemein war berauscht, und gerade wieder wurde das Salzburger Publikum von ihrer Darstellung der Norma mitgerissen. Bei Cecilia Bartolis Europatour 2016 (Opéra Monte Carlo, Venue Festival Theatre Edinburgh, Théâtre des Champs-Élysées Paris, Festspielhaus Baden-Baden) mit I Barrocchisti unter Diego Fasolis geschieht dies auf Basis der mit Partitur, Klavierauszug und Stimmen im Bärenreiter-Verlag erschienenen Ausgabe, ebenso im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, wo sich am 5. März 2016 der Vorhang für Elisabeth Stöpplers Neuinszenierung hebt.
Das Wagnis liegt zum Teil in der stimmlichen Besetzung mit dem originalen Mezzosopran, was nach der legendären Darstellung durch Maria Callas unüblich geworden war. Giuditta Pasta, die Sängerin der Uraufführung 1831 an der Mailänder Scala, aber war, der reiferen Norma entsprechend, Mezzosopranistin, während die jüngere Adalgisa ursprünglich ein höherer Sopran war (für die Adalgisa hatte sich seit der Interpretation der Callas die Besetzung mit einem Mezzosopran eingebürgert). Aber nicht nur in dieser Hinsicht verblüfft der Klang einer Aufführung nach der Neuausgabe, wie auch auf der 2013 mit dem Orchester La Scintilla unter Giovanni Antonini erschienenen CD zu hören: Der Partitur, von vielen falschen Ergänzungen, Retuschen und der nicht-originalen Dynamik bereinigt, sieht man die klangliche Entschlackung bereits äußerlich an. Sie ist kontrastreicher, sprechender, leichter. Hatte die dramatische Verkörperung der Callas in den 1950er Jahren eine Wiederbelebung der Gesangstechnik des Belcanto mit sich gebracht, so wird Cecilia Bartoli nun mit der Neubewertung der Quellen, der historischen Informiertheit über dieses musikhistorische Schlüsselwerk identifiziert werden.
Nach kritischer Sichtung aller zeitgenössischer Quellen des früh weit verbreiteten Stückes diente das Autograph als Hauptquelle für die neue Partitur, daneben die Abschriften, bei denen die Mitwirkung des Komponisten Vincenzo Bellini gesichert ist, sowie die frühesten im Druck erschienenen Klavierauszüge und die wenigen erhaltenen Orchesterstimmen. Die Erstausgabe der Partitur spielt eine lediglich untergeordnete Rolle, denn sie ist voller Fehler und höchst unzuverlässig. Die wesentlichen Unterschiede gegenüber der gängigen Ausgabe sind:
Cavatina „Casta Diva“ (Atto I): Im Manuskript ist die Arie in der originalen Tonart G-Dur enthalten. Möglicherweise stimmte Bellini der Transposition nach F-Dur bereits während der Proben an der Scala entsprechend den Bedürfnissen von Giuditta Pasta zu, doch dass Bellini im Prinzip an der Fassung in G-Dur festhielt, davon zeugen die späteren Korrekturen und Eingriffe in diese Fassung. Die Neuausgabe enthält auch in einem Anhang die transponierte Fassung inklusive der notwendigen Überleitungen.
Duetto Norma – Adalgisa, Cabaletta „Ah sì, fa core” (Atto I): Diese Cabaletta hatte ursprünglich drei Strophen, von denen die letzte zunächst gestrichen, schließlich aber doch wieder eingeführt wurde.
Terzetto – Stretta „Vanne, sì, mi lascia indegno“ (Atto I): Die letztgültige Fassung umfasst 91 Takte, es existiert aber auch eine frühere Fassung von 131 Takten Umfang, die eine zusätzliche Strophe für Adalgisa enthält und die außerdem nicht den Chor am Ende der Nummer vorsieht. Diese musikalisch interessante, alternative Frühfassung wurde zwar nicht in Bellinis Hand, aber von Bellinis Freund Francesco Florimo authentisch überliefert und deshalb in der Neuausgabe in den Anhang aufgenommen.
Finale – Chorus „Guerra, guerra!“ (Atto I): Ursprünglich folgte auf den Abschnitt in a-Moll eine Coda in A-Dur, die nicht autograph, sondern durch die Mailänder Abschrift überliefert ist und alle Texte der Vorlage Romanis enthält. Die im Anhang wiedergegebene Fassung beinhaltete alternativ eine gestrichene autographe Fassung dieser Passage mit einer Wiederholung auf einen anderen Text.
Finale – Coro „Vanne al rogo“ (Atto II): Hier folgt die Neuausgabe dem Autograph und bietet eine klarere und wirkungsvollere Deklamation. Die Herkunft der Fassung der alten Ausgabe blieb unklar, vielleicht hat ein Kopist nur falsch abgeschrieben, wie an zahllosen anderen Stellen.
Warum derart viele Details von Bellinis genialem, höchst komplexen Manuskript ihren Weg nicht in die Erstausgabe fanden und bis heute so viele originale Lesarten verschüttet blieben, darüber kann nur spekuliert werden: Unübliche harmonische und kontrapunktische Details wurden geglättet, instrumentale Mischungen in der Orchestrierung dem damaligen Gebrauch angepasst, rhythmische Feinheiten und Dissonanzen in den Vokallinien vermieden, Schwankungen zwischen Dur und Moll einfach aufgehoben … Mit dieser Ausgabe ist endlich eine zuverlässige Basis für dieses zauberhafte, dramatisch so äußerst kraftvolle Schlüsselwerk des italienischen Belcanto verfügbar.
Annette Thein
(aus: [t]akte 2/2015)