Innerhalb der „Opera omnia Rameau“ ist nun „Naïs“ erschienen, die aufwendige Oper, die der Franzose anlässlich des Friedens von Aachen geschrieben hat.
Am 18. Oktober 1748 wurde der Frieden von Aachen unterzeichnet, der den Schlussstrich unter acht Kriegsjahre setzte, während derer sich verschiedene europäische Länder um die Habsburger Thronfolge stritten (1740–1748). Der Frieden, den Ludwig XV. Frankreich verschaffte, wurde in der Hauptstadt und im gesamten Königreich ab dem 12. Februar 1749 festlich gefeiert. Joseph Guénot de Tréfontaine, der Direktor der Académie royale de musique, nutzte diese Feierlichkeiten, um den Herrscher mit einem Auftrag an Cahusac und Rameau für eine neue Oper zu umschmeicheln, die sich auf die aktuellen Ereignisse bezieht: Naïs, untertitelt „Oper für den Frieden“.
Sehr schnell, offenbar in weniger als fünf Wochen, schrieben Cahusac und Rameau das Libretto und die Musik. Die Oper von Paris scheute keine Kosten, das Werk groß herauszubringen, und beauftragte den Maler Pietro Bonifazio Algieri mit der Malerei der Kulissen. Die am 22. April 1749 im Saal des Palais Royal in Starbesetzung uraufgeführte Oper errang einen großen Erfolg. Am 7. August 1764 wurde sie – nur wenige Wochen vor Rameaus Tod am 12. September – in Paris wieder zur Aufführung gebracht, und zwar in einer vom Musikdirektor der Opéra Pierre-Montan Berton überarbeiteten Fassung mit neuen Dekors von François Boucher und Kostümen von Louis-René Boquet.
Cahusac ließ sich für sein Libretto von der klassischen Antike inspirieren. Die Rahmenhandlung ruht auf der Liebe Neptuns zu Naïs. Wie oft in der Pastorale, verwandelt sich der Gott in einen Sterblichen, damit er um seiner selbst willen geliebt werde. Während der gesamten Oper bleibt Naïs die Identität des ihr den Hof machenden Mannes verborgen. Obwohl auch sie ihn liebt, weigert sie sich, aus Angst vor Repressalien seitens der heiratswilligen, sie eifersüchtig liebenden Astérion und Télènus, ihm ihre Gefühle einzugestehen. Erst die Szene des Orakels, während der Tirésie auf das Ende der Oper anspielt, gibt ihr zu verstehen, dass es Neptun ist, der sie liebt. Sie fürchtet so sehr um ihren Geliebten, dass sie ihn, in einer besonders rührenden Szene, zurückweist, um ihn zu retten. In zahlreichen Arien bietet Rameau seinen Sängern reichlich Gelegenheit zu brillieren, während er seine orchestrale Meisterschaft insbesondere in der Chaconne und den verschiedenen weiteren Ballets offenbart.
Die Partitur von Naïs blieb zu Lebzeiten des Komponisten unveröffentlicht. Die Bibliothèque-Musée de l’Opéra in Paris verwahrt die Dirigierpartituren der Aufführungen von 1749 wie auch derjenigen von 1764. Auf Basis dieser Partitur wurden mindestens zehn Abschriften für verschiedene Sammlungen angefertigt, so etwa für die Bibliothèque royale sowie diejenige der Menus-Plaisirs. Erst 1924 erschien im Rahmen der unter der Leitung von Camille Saint-Saëns erscheinenden ersten Gesamtausgabe der Werke Jean-Philippe Rameaus die Erstausgabe von Naïs – doch unterscheidet diese nicht zwischen den Fassungen von 1749 und 1764. Die kritische Neuausgabe von Pascal Denécheau ist die Frucht eines akribischen Vergleichs aller bekannten musikalischen Quellen. Die Identifizierung der verschiedenen, an der Produktion und den Überarbeitungen beteiligten Kopisten, ermöglichte es, die 1749 und 1764 ausgeführten Änderungen zu differenzieren. Diese Ausgabe präsentiert so erstmals die Erstfassung der Aufführungen von 1749. Die Passagen, die Rameau 1749 verwarf, sowie die Änderungen des Komponisten für die neue Produktion im Jahr 1764 sind in den Anhängen wiedergegeben.
Pascal Denécheau
(aus [t]akte 1/2018)