Lullys Alceste stellt einen Meilenstein in der französischen Barockoper dar. Mit der kritischen Edition im Rahmen der Gesamtausgabe steht das Werk nun in einer verlässlichen Form für Wissenschaft und Praxis bereit.
Alceste ou le triomphe d’Alcide nimmt eine Schlüsselstellung in der Geschichte der Tragédie en musique ein. Davon zeugen ihre außerordentlichen sprachlichen und musikalischen Qualitäten sowie die literarisch-theoretischen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der klassischen französischen Tragédie und Charles Perrault, der im Auftrag des Königs die Verteidigungsschrift La critique d’Alceste publizierte, wodurch die neue Gattung der „in Musik gesetzten Tragödie“ gegen erhebliche Widerstände endgültig in Frankreich durchgesetzt wurde. Damit nimmt Alceste, wenngleich aus anderen Gründen, eine dem Orfeo Monteverdis vergleichbare historische Stellung ein. Ludwig XIV., der in zwei Personen der Oper, in Apoll und in Alcide, präsent ist, hatte erkannt, welche Bedeutung die Gattung für seine Ausstrahlung in Frankreich und sein internationales Prestige einnahm. Er war darüber hinaus von der Musik und der Inszenierung der Oper begeistert.
Zu den allgemein menschlichen Verhaltensweisen, die der Handlung zugrunde liegen, gehören die moralische Größe von Alceste und Alcide, die komisch dargestellte Freizügigkeit in der Liebe niederer Personen, der Egoismus eines greisen Herrschers und die unverblümte Einforderung von Zahlungen Carons an die Toten, die er über den Styx in die Unterwelt überführen soll.
Henry Prunières legte 1932 eine Edition im Rahmen seiner Œuvres complètes vor, die auf sehr unzureichender Quellenkenntnis beruhte und schon den damaligen Anforderungen an eine kritische Ausgabe kaum entsprach.
Für die neue kritische Ausgabe standen 27 Partitions générales und neben dem Druck der Partition réduite von Henri de Baussen um die zehn handschriftliche reduzierte Partituren zur Verfügung. Die jüngste glückliche Entdeckung der Alceste-Abschrift aus der Privatbibliothek von Lully, die mit einem anderen, 1682 datierten Manuskript übereinstimmt, ermöglicht eine Edition der Fassung letzter Hand des Komponisten. Es handelt sich um eine nahezu fehlerfreie Kopie, u. a. mit einer bisher nicht bekannten Fassung des Trauerzeremoniells im III. Akt mit der systematischen Bezifferung aller vokalen Stücke, mit der Ornamentierung der Vokal- und Instrumentalstimmen, mit dem mit onomatopoetischen Silben versehenen Gebell des Zerberus in einer Szene, die nach den ersten Aufführungen in einem berühmt gewordenen Chanson parodiert wurde und dazu geführt hatte, dass Lully das Gebell des Zerberus zunächst strich, aber es in seiner endgültigen Partitur beibehielt.
Die außerordentlichen Qualitäten von Alceste zeigen sich in der Dramaturgie des Prologs und der vier Akte, in der klassischen Sprache Quinaults, in der musikalischen Gestaltung der Szenen und der fünf in die Handlung stringent integrierten Divertissements mit einer großen Vielfalt von Tänzen (Gavotten, Menuette, Louren, Entreen, Märsche, Rondeaus, Airs und Gigue). Die komplexe Partitur auf dem in der Regel normiert rastriertem Papier im Folio-Format wiederzugeben, war kaum vollständig möglich. Erst die Auswertung aller Quellen ermöglichte es, die reiche Instrumentierung (Flöten, Oboen, Trompeten und Pauken alternativ oder colla parte mit den Streichern, Musette) und die vielfältig besetzten Chöre und Ensembles (Echochor, ein-, zweichörige Besetzung, auch mit Solisten und Ensembles) und damit einen bisher nicht bekannten Reichtum der musikalischen Gestaltung der Partitur zu rekonstruieren. Mit der Schlachtenmusik des zweiten Akts, der hochexpressiven Trauerzeremonie des dritten (mit Trauermarsch und Zeremoniell wie bei einer höfischen Trauerfeier und mit einem atavistischen Ritual), der Alekton-Szene mit Gebell des Höllenhunds, dem Divertissement der Welt Plutos und Proserpines (Tanz und Gigue der Dämonen sowie sich jeweils anschließenden Tanzchören) und der Feier zu Ehren Alcides im fünften Akt (u. a. mit einem große Würde ausstrahlenden „Air dansant“) hat Lully Höhepunkte geschaffen, die er auch in nachfolgenden Opern nicht übertroffen hat. Mit dem unvergleichlichen Reichtum an Gesängen (darunter auch mehrere „Timbres“, die in die Oralität eingegangen sind) und an Instrumentalsätzen in einem vielgestaltigen Drama zeigt sich Lully auf der Höhe seines Schaffens.
Herbert Schneider
(aus [t]akte 2/2017)