„Nach Rom!” hieß es für Charlotte Seither, als sie eins der Stipendien für einen Aufenthalt in der berühmten Villa Massimo in Rom erhielt. Seit dem Frühjahr ist die Komponistin nun in der Ewigen Stadt und berichtet für [t]akte von ihren Eindrücken und Erlebnissen.
Ein Jahr in der Deutschen Akademie Villa Massimo! Neun Stipendiaten aus den Sparten Musik, Bildende Kunst, Literatur und Architektur werden alljährlich vom Kulturstaatsminister für einen einjährigen Aufenthalt nominiert. Neun Biographien und ganz verschiedene Erwartungshaltungen treffen also täglich zwischen Feigen und Forum Romanum, Prosciutto und Passato Prossimo aufeinander. Was also bringt’s?
Zuallererst: Die unauslöschliche Liebe zu Italien. Man könnte auch einfacher argumentieren: Das Ambiente der schmucken Renaissance-Villa samt Park im römischen Stadtteil Nomentana, die Freiheit, ein Jahr lang unbekümmert von äußerem Auftragsdruck arbeiten zu können, das Zusammenleben mit spannenden Köpfen der eigenen Generation aus den anderen Kunstsparten, nicht zuletzt über dringliche Fragen der Pasta-Zubereitung und der Waschmaschinen-Koordination – all dies sind Koordinaten, wie sie die Möglichkeiten eines normalen (Kurzzeit-)Stipendiums bei Weitem übersteigen. Ein Jahr Lebenszeit, zumal in einem derart vibrierenden Kultur- und Sprachraum, ist existenziell, lässt sich nicht mehr ausradieren. Alles in diesem Jahr ist eben ein bisschen mehr. Alles, was mit Kunst zu tun hat, gründet in dieser Stadt eine gute Etage tiefer. Unfassbar, wie das Bedürfnis, Kunst zu machen (sprich: Würde des Daseins, in welcher Form auch immer, zu artikulieren und zu empfangen) durch die Jahrhunderte hindurch und auf jedem Quadratzentimeter dieser Stadt spürbar ist. Warum haben sich die Menschen hier immer und immer wieder aufs Hochartifiziellste künstlerisch artikuliert? Warum haben sie sich stets besonders leistungsfähige Materialien ausgewählt und durch ihre geistige Kraft einen gar nicht abschätzbaren humanen Mehrwert geschaffen?
„Troppo era matura in me la sete di vedere questo paese”, so ist an der Wand der Casa di Goethe zu lesen, „wie sehr war doch in mir der Durst gereift, dieses Land zu sehen”. Sprich: Auch in der Villa Massimo wird nur Frucht bringen, was auf den gereiften Boden, auf das gepflügte Feld der inneren Bereitschaft fällt, sich zu bewegen und bewegen zu lassen. Alles brodelt. Alles wackelt und knirscht. Vieles von dem, was im Handgepäck mitgebracht worden ist nach hier, was einem zu Hause doch noch so wichtig und existenziell erschien, fällt, wird plötzlich vollständig verzichtbar und löst sich ganz einfach in Luft auf. Es wird anders zu leben und zu arbeiten, wenn man hier gewesen ist.
Zwei Stücke sind bislang hier entstanden, in einer sich für mich zunehmend potenzierenden Phase konzentrierten Denkens. Deixis (2009), ein neues Werk für Violoncello, ist für Rohan de Saram entstanden, der es auch am 23. Juni hier in Rom zur Uraufführung gebracht hat. Es ist ein 15-minütiges Solostück, in dem ich die Auseinandersetzung mit dem, was „Cello solo” für mich als Aufgabe formuliert, nach über zehn Jahren noch einmal neu artikuliert habe. Ein weiteres Stück entsteht derzeit für eine Uraufführung mit dem Ensemble Modern (Beschriftung der Tiefe von innen, 18 Spieler), dessen spielerische Möglichkeiten einen Komponisten ja immer wieder neu beflügeln. Das Stück wird am 11. Dezember im Auditorio della Musica hier in Rom zur Uraufführung kommen. Im Rahmen eines Kammerkonzertes am 15. Oktober werden Far from distance (2008) und Champlève (1994) aufgeführt werden. Die Vernetzung von Musikern und Institutionen, wie sie hier in der Stadt völlig selbstverständlich erscheint, ist eine große Bereicherung.
Auch ein drittes Auftragswerk, für 20 Streicher und Sopran, wird noch in die kostbare Arbeitszeit hier in Rom fallen, ein Auftragswerk des Württembergischen Kammerorchesters Heilbronn, das am 22. September 2010 im Rahmen der Spielzeiteröffnung des Kleist-Jahrs in Heilbronn erstmals erklingt. Andere Aufträge, die gar nicht unbedingt mit Italien-Bezug versehen sind, wurden hier projektiert, werden aber erst in der Zeit zurück in Bonn zur Ausarbeitung gelangen können. Kleist in Rom? Na ja, Goethe war ja auch da. Und wenn es die Villa Massimo damals schon geben hätte, dann hätten die beiden bestimmt mal auf der Terrazza des Studio 3 einen Frascati miteinander getrunken.
Charlotte Seither