Dieter Ammann war Composer in residence des Lucerne Festival 2010. Dabei hat Pierre Boulez die Uraufführung von Ammanns Orchesterkomposition Turn dirigiert, die zusammen mit Boost und Core ein Triptychon bildet. Weitere Konzerte mit Werken Ammanns kamen hinzu.
Der Titel Turn bezeichnet ein formales Konzept – was für Dieter Ammann alleine schon einen singulären Vorgang bei der Komposition seines neuen Orchesterstücks darstellt, denn normalerweise entwickelt der Komponist seine Werke ohne eine vorher abgesteckte Formidee. Die Auftragskomposition für das Lucerne Festival, Turn für Orchester, bildet das Mittelstück zu Ammanns Orchesterwerken Boost (2000/2001) und Core (2002) und ist als Adagio konzipiert. „Ich habe ein formales Konzept entwickelt, das eine bewusste Überfrachtung des Orchestersatzes exponiert, um so eine musikalische Aura zu schaffen, die in der Folge dann einer grundlegenden Veränderung unterzogen bzw. völlig gebrochen wird. Gleichzeitig habe ich der Vertikalen eine starke Bedeutung zugemessen.“ Ein Adagio also, das im ruhigen Tempo ein dichtes Geschehen organisiert und tonal auf Zentraltöne fixiert ist, die oft als Basstöne auch den Satz grundieren. Nach und nach verdichtet sich die Musik zu einem Pulsieren, sie mündet in eine heftige, homorhythmische Pendelbewegung. „Genau dort, wo die Musik für den Hörer ganz eindeutig, leicht fasslich wird, passiert der Turn, ein Wendepunkt, an dem die vorherige Klanglichkeit völlig implodiert und abrupt in ein anderes Klangbild umschlägt. Das ist vergleichbar mit einer Szenerie auf einer Bühne, wo Beleuchtung und Technik schlagartig eine neue Atmosphäre schaffen.“ Statisch, wie aus der Ferne grundieren zeitlupenartig Leersaitenklänge, die mikrointervallisch verzerrt sind, eine stoisch aufsteigende Skalenbewegung der Bläser. „Von dort aus will sich die Musik noch einmal befreien und möchte zurück. Fragmentarisch taucht frühere Akkordik noch einmal auf, aber der Bruch bleibt bis zum Schluss wirksam.“
Turn steht als Einzelkomposition für sich, ist in ihrem Adagio-Charakter jedoch für eine Aufführung zusammen mit Boost und Core konzipiert. Die beiden früheren Orchesterkompositionen ihrerseits haben jene Ammann eigene federnde Spannkraft und explodierende Klanglichkeit, die einen spannungsreichen Rahmen um den „Wendepunkt“ in der Mitte legen. Dabei ist Core, wie der Komponist erläutert, „etwas klangmassiver, robuster gegenüber dem grazileren, beweglicheren Boost“. Die Gelegenheit für eine erstmalige, gemeinsame Aufführung der drei Orchesterwerke ergriff Dieter Ammann, als das Lucerne Festival ihn um Vorschläge für eine Komponistenresidenz und das Konzert mit Pierre Boulez und dem Lucerne Festival Academy Orchestra fragte.
Im Festival werden außer den Orchesterstücken weitere zentrale Werke Ammanns präsentiert. Das Ensemble Intercontemporain unter Leitung von Susanna Mälkki führt Violation für Violoncello und Ensemble (1999) sowie pRESTO sOSTINATO für großes Ensemble (2006) auf, das zum 100. Geburtstag von Paul Sacher entstand. In einem Konzert mit dem Casal Quartett erklingen beide Streichquartette Nr. 1 „Geborstener Satz“ (2003) und Nr. 2 „Distanzenquartett“ (2009) zum ersten Mal zusammen – Stücke sehr unterschiedlichen Charakters: „Das erste ist für mich ein ausgesprochenes Sturm-und-Drang-Stück, es ist quasi atemlos. Das zweite hat einen ruhigeren Atem“, sagt Ammann.
Die „andere Seite“ des Komponisten Dieter Ammann, die des improvisierenden Jazz-Musikers, wird in zwei Konzerten präsentiert: „in einem völlig frei improvisierenden Ensemble, das aus lauter Komponisten besteht, und einmal mit einer Band, die ich für ein Nachtkonzert reaktivieren werde.“
Im Rahmen des Schweizerischen Tonkünstlerfestes und in Zusammenarbeit mit der Luzerner Musikhochschule, wo Ammann als Kompositionsprofessor wirkt, wird Venite a dire. Raummusik. 2 Stücke für 12 Stimmen zu Cavalieris „Anima e corpo“ zur Aufführung kommen, zwei Madrigale für Chor nach Texten aus Werken von Cavalieri, Bach und Monteverdi. Eines der Stücke arbeitet mit einer räumlichen Anordnung von drei Vokalquartetten, das andere geht im Ausdrucksgehalt weit in Bereiche, die rein lautmalerisch sind und wo sich Sprache in rhythmische Strukturen auflöst. Doch: „wie immer in meinen Stücken suche ich die extremen Gegensätze zur Synthese zu führen.“
Marie Luise Maintz
(from [t]akte 2/2010]