[10.10.2012] Mit äußerster Reduktion entfaltet der russische Komponist Vadim Karassikov in The Absent, komponiert für das luxemburgische Festival „rainy days“, ein subtiles Spiel mit der Wahrnehmung.
Es gibt, so erzählt Vadim Karassikov, die Geschichte einer europäischen Touristin in Japan, die einen normalerweise für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Meditationsraum in einem buddhistischen Kloster besuchen durfte. Sie empfand die Energie dieses leeren Raums mit einer so unerträglichen körperlichen Wucht, dass sie den Raum umgehend verlassen musste. Die starke Präsenz des leeren Bewusstseins beraubte sie all dessen, mit dem sie sich normalerweise vor jeder Selbstwahrnehmung schützte. Plötzlich blickte sie in ihren eigenen Geist, wogegen sie sich jahrzehntelang immer gewehrt hatte. Die gewohnte Welt der vielen wundervollen Dinge um sie herum, jegliche Form der Ablenkung – Familienalltag, Gespräche, Fernsehen, Radio, Telefon, Internet, Sport … – erschien ihr auf einmal als eine starke Droge gegen das eigene Bewusstsein. Die meisten Menschen – so fasst es Vadim Karassikov zusammen – bedienen sich ständig solcher „Drogen”, um sich selbst nicht wahrzunehmen; Mönche in Zen-Klöstern hingegen versuchen nicht, vor diesem Problem davonzulaufen, sondern betrachten es für eine Weile sehr genau – bis es von selbst verschwindet.
Horror vacui, Furcht vor dem leeren Raum (in der Kunstgeschichte nebenbei bemerkt als Bezeichnung für einen vollkommen detailüberladenen Malstil gebräuchlich) muss man beim Hören von Vadim Karassikovs neuem Stück The Absent trotz der extremen Reduktion der klingenden Ereignisse nicht haben. Bei der „nahezu stillen Klang- und Rauminstallation“, die am 25. November 2012 beim Festival „rainy days“ in der Philharmonie Luxembourg uraufgeführt wird, beginnt das subtile Spiel mit der Wahrnehmung bereits, wenn man in der Garderobe seinen Mantel abgibt und sich anschließend zu seinem Platz auf der von unterschiedlichen Leinwänden umgebenen Bühne des Grand Auditorium begibt, während Musiker des Ensemble intercontemporain im Publikums- und Backstage-Bereich minimalistisch in Szene gesetzt sind. Sollte man sich jedoch fragen, wie man am besten reagiert, wenn man sich plötzlich in einem Raum mit einer durchaus ungewohnten musikalischen Situation befindet, dann empfiehlt Vadim Karassikov lächelnd eine uralte indische Lebensweisheit: „Was immer sich vor dir abspielt, versuche nicht, es zu fassen und etwas damit anzustellen, sondern lass’ es kommen und lass es gehen.“ Das ist übrigens für ihn das Wesentliche, was man vom Zen-Adepten John Cage heute noch lernen kann: „Mehr Energie, mehr Interesse und mehr Kraft entwickeln, um die Dinge einfach geschehen zu lassen. Den Willen, die Mittel zu verbessern, die einen der eigenen Natur näherbringen. Ansonsten hätte er nie Daisetsu Suzuki aufgesucht und nie das komponiert, was er komponiert hat.“
Deutlicher noch als Cage hat allerdings das Spätwerk von Mozart seine Spuren in The Absent hinterlassen – der Anfang des Streichquartetts KV 589 findet sich als kurzes Zitat an prominenter Stelle. Für Karassikov bündelt sich in diesen Takten das Gefühl totaler Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Schutzlosigkeit einerseits mit unendlicher Schönheit andererseits: „Der Beginn des Allegros ist der stärkste und brillanteste musikalische und künstlerische Ausdruck davon – das größte Glück und die größte Traurigkeit, die das Leben bereithält, beides zur gleichen Zeit. Man muss sich nicht wehren, es gibt nichts, gegen das man sich wehren müsste. Alles ist nur unglaubliche, unvergängliche Schönheit. Das ist das Wesentliche. Mozarts letzte Worte. ,Ich kann es nicht ändern. Aber schau, wie schön es ist.’“
Bernhard Günther
(aus [t]akte 2/2012)