Mit seinem Weihnachtsoratorium schrieb Saint-Saëns in jungen Jahren ein leicht zugängliches Werk, das nun in einer verlässlichen Urtextausgabe vorliegt.
Gerade einmal 23 Jahre alt war Camille Saint-Saëns (1835–1921), als er im Dezember 1858 innerhalb weniger Tage die ersten sechs Sätze seines Oratorio de Noël komponierte, die dann – möglicherweise in der Mitternachtsmesse – in der Pfarrkirche Sainte-Marie-Madeleine in Paris uraufgeführt wurden. Vier weitere Sätze fügte Saint-Saëns in den folgenden fünf Jahren hinzu. Wann genau und vor allem warum Saint-Saëns diese Sätze nachkomponiert hat, ist anhand der Quellen nicht nachvollziehbar. Denkbar ist, dass er nach der Uraufführung Ideen umgesetzt hat, die er in der Kürze der Zeit 1858 nicht hatte realisieren können. Möglich ist aber auch, dass die Sätze (sukzessive) für drei Aufführungen in den Folgejahren geschrieben wurden, um jeweils etwas Neues bieten zu können. Vielleicht war die große Fassung auch von Anfang an geplant, um dem Werk ein anderes Gewicht zu geben. Eine systematische Überarbeitung der Urfassung nahm er allerdings erst sehr viel später vor.
Deutlich später äußerte Saint-Saëns sich zur Uraufführung des Werks 1858, mit der er scheinbar sehr zufrieden gewesen ist, vor allem wegen der „Superstars“ – wie er sie bezeichnete –, die die Solopartien sangen. In der Presse wurde die Aufführung hingegen nicht besprochen, was möglicherweise auch damit zusammenhing, dass das Werk nicht dem Geschmack der Zeit entsprach: Paris in den 1850er-Jahren atmete den Geist des Musiktheaters, und im liturgischen Raum dominierten an Weihnachten Zusammenstellungen bekannter Weihnachtslieder (Noëls), die in verschiedenen Besetzungen zu Suiten oder Kantaten verarbeitet worden waren und eine lange Tradition hatten.
Ausgelöst durch die Beethoven-Rezeption, gab es im Frankreich dieser Zeit eine große Vorliebe für deutsche Musik – insbesondere auch für Johann Sebastian Bach. Auch wenn Saint-Saëns sich später sehr gegen diese Mode aufgelehnt hat, teilte er doch das Interesse für deutsche Instrumentalmusik. Seine Vorliebe für Werke Bachs ist u. a. in den Transkriptionen einiger Kantaten- und Sonatensätze für Klavier dokumentiert, die bezeichnenderweise in derselben Zeit entstanden wie das Oratorio de Noël.
Die Parallelen zwischen der Komposition von Saint-Saëns und Bachs Weihnachtsoratorium sind nicht nur aufgrund des Titelzusatzes auf der ersten gedruckten Partiturseite („Dans le style de Séb. Bach“) deutlich.
Im Gegensatz zu Bach wird die Weihnachtsgeschichte bei Saint-Saëns aber nicht von einem Evangelisten erzählt, der Franzose „verteilt“ die Darstellungen auf verschiedene Solisten. Auch verwendet Saint-Saëns keine freien Texte: Er vertont ausschließlich Texte der Vulgata und der katholischen Liturgie.
Erst fünf Jahre nach der Uraufführung wurde die Komposition allgemein zugänglich, als ein Klavierauszug des Oratorio de Noël von dem Saint-Saëns-Schüler Eugène Gigout im Verlag von Gustave Flaxland (späterer Durand) veröffentlicht wurde. Interessant ist, dass es für die nächsten knapp 30 Jahre weder einen Druck der Partitur noch der Orchesterstimmen gab. Erst 1892 kam es zur Drucklegung der Partitur bei Durand. Die hohen Auflagenzahlen der Chorstimmen und des Klavierauszugs deuten darauf hin, dass das Werk unglaublich beliebt war. In späteren Jahren bezeichnete Saint-Saëns selbst dieses Jugendwerk als sein „petit oratorio de noël“. Es ist vielleicht ein kleines Werk, aber mit großer Wirkung, das sowohl für kleine Chöre als auch für größere Ensembles reizvoll ist. Schon jetzt erfreut es sich international großer Beliebtheit.
Erstmals liegt das Werk nun in einer umfassenden wissenschaftlich-kritischen Urtext-Ausgabe vor, die nicht nur die Umarbeitungen durch den Komponisten dokumentiert, sondern auch wertvolle Hinweise zu der gallikanischen Aussprache des lateinischen Textes gibt, die bis ins Jahr 1903 in Frankreich üblich war.
Der Klavierauszug basiert auf dem zeitgenössischen Arrangement von Gigout.
Christina M. Stahl
(aus [t]akte 1/2020)