Ohne Chance auf eine Aufführung hat Bohuslav Martinů in den Jahren 1914/15 zwei Werke für Orchester komponiert. Bei Bärenreiter Praha sind sie nun erstmals erschienen.
Im frühen Schaffen von Bohuslav Martinů, das mit dem Weggang des Komponisten nach Paris im Jahr 1923 endet, überwiegen Lieder mit Klavierbegleitung und kammermusikalische Werke. Unter den insgesamt 135 frühen Kompositionen finden sich auch sinfonische und szenische Werke von nicht geringem Umfang. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist bis heute in keinem Verlag erschienen und existiert nur in Form von Autographen. Gerade diese sinfonischen Werke stellen jedoch einen wichtigen Bestandteil der künstlerischen Entwicklung des Komponisten dar, ohne deren Kenntnis es nur schwer möglich ist, ein vollständiges Bild von seinem Schaffen zu erhalten und nachzuvollziehen, wie er später an sein frühes Werk anknüpfte. Bärenreiter Praha stellt nun das Aufführungsmaterial zweier Kompositionen der frühen Schaffensperiode vor, das Nocturne Nr. 1, H. 91 und die Ballade zu Böcklins Bild „Villa am Meer“, H. 97.
Die Umstände der Entstehung beider Werke sind nicht bekannt. Martinůs Korrespondenz lässt vermuten, dass sie in den Jahren 1914/15 in Polička entstanden, wo er während des Ersten Weltkriegs Geigenunterricht gab und Stücke schrieb, die häufig von außermusikalischen Anlässen beispielsweise aus der Literatur oder der Malerei angeregt wurden. So auch die Ballade zu Böcklins Bild „Villa am Meer“.
Eine Aufführung der Orchesterstücke war im Hinblick auf das Alter und die unbedeutende gesellschaftliche Stellung des Komponisten unwahrscheinlich, was auch aus einem Blick auf die Partitur ersichtlich wird. Martinů schrieb die Stücke schnell und offensichtlich, ohne sie zu überarbeiten, das Notenbild ist verdächtig sauber, ohne Korrekturen. Anschließend hatte er offenbar kein Interesse mehr an ihrer Veröffentlichung, denn in sein späteres Werkverzeichnis nahm er keines der Orchesterwerke aus der Zeit vor 1918 auf.
Die Partituren lassen das angestrengte Bemühen eines Autodidakten um die Erreichung festgesetzter Ziele erkennen. Dabei finden sich Uneindeutigkeiten und problematische Stellen. Die häufigsten Probleme, die bei der Edition auftraten, waren leere Takte, die Längen der Noten, Tonhöhen bei transponierenden Instrumenten oder im Bratschenschlüssel, eine zu große Zahl an Noten in den Systemen der Blasinstrumente, Tremoli, Bindebögen und weitere Unstimmigkeiten, die aus heutiger Sicht keine eindeutige Auslegung ermöglichen. Angesichts der Existenz von nur einer Quelle zu jedem Werk galt es an Stellen, die unvollständig oder fehlerhaft geblieben sind, Lösungen vorzuschlagen, die den damaligen Stil und die Absicht des Komponisten so gut wie möglich berücksichtigen.
In Bezug auf die stilistische Einordnung der Werke ist zu fragen, welche kompositorischen Vorbilder Martinů hatte. Von dem, was das Prager Umfeld in den Jahren 1905–1918 bot, gefiel ihm die Musik Claude Debussys am besten, obwohl sie im Repertoire nicht so stark vertreten war wie Bedřich Smetana oder die deutsche Musik (Mahler, Bruckner, Strauss usw.). Beeinflusst wurde er jedoch offensichtlich von beiden Welten. Die den frühen Kompositionen gemeinsamen Merkmale – ein langsameres Tempo, ein freier Aufbau des Werkes, durch harmonische Wendungen unterteilt, eine ständig sich entwickelnde Melodie, die nicht den Charakter geschlossener Themen hat – zeigen, dass sich im äußeren formalen Aufbau, aber auch in der inneren Anordnung der harmonischen und melodischen Bestandteile eine Konfrontation der spätromantischen und der impressionistischen Musik anbahnt.
Das Nocturne und die Ballade ermöglichen ein neues Verständnis der Zusammenhänge mit dem späteren Schaffen Bohuslav Martinůs, und sie bieten eine sehr interessante Abwechslung im heutigen Konzertbetrieb.
Sandra Bergmannová
aus [t]akte 2/2011