Am 22. Oktober wird Manfred Trojahn 70 Jahre alt. Für eine Lebens- und Schaffensbilanz ist es zu früh. Gerhard R. Koch aber zeichnet Linien und Wegmarken im Werk des Komponisten nach.Am 22. Oktober wird Manfred Trojahn 70 Jahre alt. Für eine Lebens- und Schaffensbilanz ist es zu früh. Gerhard R. Koch aber zeichnet Linien und Wegmarken im Werk des Komponisten nach.
Nach 1945 war von „Stunde Null“ und radikalem Neuanfang die Rede, zunächst politisch, während manch „braune“ Ehrenmänner noch oder schon wieder Einfluss ausübten. Und abermals war die Musik Konfliktstoff in zwei konträren „Mekkas“: Bayreuth und Darmstadt. In Darmstadt wurde via Webern und Messiaen der Serialismus entwickelt, der Einzelton nach Höhe, Dauer, Stärke, Farbe, Artikulation systematisiert. Anklänge an Tradition, gar Tonalität, Vertrautes aller Art wie Sprachähnliches, Gesang, Sinfonie, gar Oper waren tabu. Wer dagegen verstieß, galt als reaktionär, wenn nicht gar „ewig gestrig“. Die Institution war schulbildend, wurde als dogmatische Zwingburg dämonisiert. Doch gar so monolithisch war sie nicht. Und die anfangs dominierende Trias Boulez-Nono-Stockhausen zerstritt sich bald. Boulez immerhin meinte 2009: „Die serielle Musik war ein Tunnel von zwei Jahren. Dieser Tunnel war absolut notwendig, um die neue Landschaft zu entdecken.“ Zum Darmstadt-Trauma indes wurde, dass das rigide Trio 1958 bei der Donaueschinger Uraufführung von Henzes Nachtstücken und Arien demonstrativ den Saal verließ. Seitdem war Henze, nach Italien übergesiedelt, Oppositionsführer wider die Avantgardezentren Darmstadt, Donaueschingen und Köln. Und eine ganze Reihe jüngerer Komponisten hat sich ihm angeschlossen. Nicht zuletzt Manfred Trojahn.
Auch er hält es, analog zu Mendelssohn, Schumann und Brahms, selbst Reger, nicht mit der „Zukunftsmusik“: Serialismus, (Live-)Elektronik, Aleatorik, Improvisation, geräuschhafte Verfremdung, „Musik im Raum“, Aktionismus, Instrumentales oder „Total-Theater“, Multimedia, Exotismen, auch politisches Engagement, gar Agitprop, Kollektiv-Arbeit, Popularkultur, Filmmusik spielen bei ihm kaum eine Rolle. Darin unterscheidet er sich fundamental von dem hochverehrten Henze mit seinen Stilbrüchen, ästhetischen Grenzgängereien und nicht zuletzt politischen Schwenks.
Als Avantgarde-Komponist will Trojahn sich nicht unbedingt verstehen. Dennoch fühlte er sich, auch während seiner Kompositionsprofessur in Düsseldorf und zahlreicher (Ur-)Aufführungen auch an den Großinstitutionen, als Außenseiter gegenüber den obligaten Galionsfiguren des „Fortschritts“. In gelegentlicher Polemik gegen diese und den „Betrieb“ schwingen Verletzungen mit. Dabei ähnelt er nur sehr bedingt Generationsgefährten, die ab Mitte der siebziger Jahre als Anti-Darmstadt-Fronde und neue deutsche Tonalitätsromantiker etikettiert wurden. Dagegen ist er gefeit durch einen kulturgeographischen Spagat besonderer Art. Bei Braunschweig geboren, zog es ihn gleichermaßen nach Italien wie Frankreich, aber auch nach Skandinavien. Suchte er im romanischen Kulturbereich die Welt von Theater, Oper, Ballett, so im Norden die einsamen Landschaften, die, wie auch immer, ihren Niederschlag in den Sinfonien von Sibelius und des Schweden Allan Pettersson gefunden haben, für den sich Trojahn auch als Dirigent engagiert hat. Damit sind die beiden Hauptstränge von Trojahns Schaffen umrissen: Sinfonisches und Oper – schon im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich, zumal in der Doppelung. Vollends ab 1950 sind die strukturellen Voraussetzungen wie die Tonalität für die großen klassischen Formate brüchig geworden. Als Henze wie Trojahn Sinfonien und Opern schrieben, wirkte dies mitunter fast als „credo quia absurdum“, bekräftigt indes durch prononcierten Vorsatz und artistisches Gelingen.
So ist es keineswegs Resignation gegenüber dem „anything goes“ der sogenannten Postmoderne, stellt man fest, dass die ohnehin fragilen Kriterien für reaktionär oder progressiv nicht mehr greifen. Zumindest lässt sich vieles von Trojahn nicht mehr nach solch simplem Schema be- oder gar aburteilen. Die neuerliche Beschäftigung mit manchen Werken jedenfalls belegt, dass das einstige Schlagwort „neue Einfachheit“ in die Irre führt. Dass jemand tonale Allusionen, motorische Raster und semantische Klangtopoi (das „klagende“ Englischhorn) nicht hundertprozentig verschmäht, macht ihn nicht automatisch zum spätromantischen Kitschier. Überhaupt sind seine sinfonischen Werke alles andere als nostalgisch wohllautende Idyllen, viel mehr voller rabiater Schroffheiten kinetischer Turbulenzen, Schlagzeug-Eruptionen. Dass Trojahn Flötist ist, spürt man an den virtuos gleißenden Hüllkurvenkatarakten der Holzbläser.
Pierre Boulez hat den „Gedächtnisschwund“ zugunsten der durch nichts Vergangenes korrumpierten Zukunft „reiner“ Struktur thematisiert. Trojahn hingegen lässt sich durch Assoziationen leiten, bildnerische, literarische, musikalische Anregungen, sei es durch Kompositionen, sei es durch seinen Lehrer Ligeti. So bezieht sich seine erste Sinfonie Makramee (1974) auf orientalische Verknüpfungstechniken, auch Ligetis Mikropolyphonie. In der Zweiten lassen sich Mahler-Reflexe heraushören (Marcia furioso, Nachtmusik), während die Dritte, keineswegs plakativ, von einem imaginären Italien zeugt. Sogar einen sinfonischen Zyklus gibt es: Fünf See-Bilder (1979–1983) beschwören düster nordische Stimmungen, integrieren Gedichte von Georg Heym, bringen schier apokalyptische Rauschwolken und mit Englischhorn und es-Moll expressive Wagner-Anklänge. Eine sechste Sinfonie hat Trojahn fest im Blick.
Im Gegensatz zur Darmstadt-Avantgarde hat Trojahn, ähnlich wie Henze, immer wieder betont, dass szenische Vorstellungen oft sein Komponieren prägend beeinflussen, ja initiieren, die Stimme stete Verlockung bleibe. Der Weg zur Oper war vorgezeichnet, damit auch der zu einem Genre, das stärker als die stringentere Sinfonie durch Bühnentraditionen, ja -konventionen mitbestimmt wird. Verdis Devise: „Torniamo all‘Antico – e sarà un progresso“ galt auch für Trojahn; wobei offenbleibt, was „Altes“ und „Fortschritt“ bei beiden wirklich heißt.
Fünf Opern hat Trojahn bislang geschrieben, und täuscht der Eindruck nicht, so sind die erste – Enrico – und die letzte – Orest – womöglich sogar die stärksten. Und mag das Faible für den nebligen Norden noch so groß sein: Die „Melodrammen“-Vorlagen gehören ins Mediterrane. Verbunden sind sie durch das Spiel mit Sein und Schein, trügerischer Realität. Die obligaten Zweifel am Sinn von „Literaturoper“ werden in den gelungenen Fällen entschärft. Zumal Trojahn Texte keineswegs eins zu eins vertonte: So hat Claus H. Henneberg als Librettist nicht nur als „Einrichter“ gewirkt. Enrico (1991), basierend auf Pirandellos Heinrich der Vierte, zeigt einen Adligen, der bei einem Kostümspiel den deutschen Kaiser spielt, vom Pferd stürzt und sich im Wahn für den Kaiser hält, dies zumindest spielt. Die Umgebung will ihn therapieren. Doch er entdeckt seinen Nebenbuhler, der seinen Unfall verursacht hat, ersticht ihn – und muss nun für immer der irre Pseudokaiser sein. Das Ganze ist ein turbulentes Sex-and-Crime-Spektakel mit einiger Rossini-Rasanz: Und entspricht Strauss‘ Salome-Bonmot vom „Scherzo mit tödlichem Ausgang“.
Auch für Was ihr wollt hat Henneberg Shakespeares Text in kunstvolle Ensembles verwandelt. Und für den Schlussmonolog des Narren wird das Ganze ins Englische und nach d-Moll (zurück)geführt. Limonen aus Sizilien verleugnen nicht Puccinis Trittico, und auch La Grande Magia hat als hintersinnige Komödie Bühnenwirksamkeit erlangt. Für die jüngste Oper, Orest, hat Trojahn den Text selbst verfasst, was ihr zusätzliche Schubkraft verleiht. Analog zu Enrico wird die Atriden-Tragödie in eine Art Klinik verlegt, wobei wieder die Frage nach Schuld und Schein das Geschehen vorantreibt. An Anfang und Ende durchdringt der Ruf „Orest!“ den Außen- wie Innen-Raum. Orest gehört eindeutig zu Trojahns stärksten Partituren. Vom „Gedächtnisschwund“ ist Trojahn keineswegs befallen. So hat er für Mozarts La clemenza di Tito die stets heiklen, nicht authentischen Rezitative neu komponiert, Vergangenheit und Gegenwart kreativ amalgamiert.
Beschäftigt man sich erneut mit Trojahns Sinfonik wie Opern, so ergibt sich ein fast janusköpfiges Bild: Folgt die Bühne noch manchen lyrisch-buffonesken Gattungstraditionen, so ist die Orchestersprache kinetisch-schroffer, bis zur Raserei. Noch bei der Henze-Hommage Contrevenir (2012) oder der Herbstmusik (2010) kann von „Neue Einfachheit“-Idyllik nicht im Entferntesten die Rede sein.
Gerhard R. Koch
(aus [t]akte 2/2019)