Bruno Mantovanis C… für Violoncello solo, das am 28. April 2017 bei den Badenweiler Musiktagen mit Jean-Guihen Queyras zur Uraufführung kommt, zeugt von einer bedeutenden Inspirationsquelle des Komponisten:
Es nimmt den zentralen Platz eines umfangreichen, schwerpunktmäßig dem Violoncello gewidmeten Triptychons ein, dessen bereits vorliegendes Stück Once Upon A Time 2016 anlässlich der Einweihung des Louvre Abu Dhabi uraufgeführt wurde. In diesem Werk für „violoncelle principal“ (wie Mantovani präzisiert) und Orchester wird dem Violoncello gleichermaßen die Rolle eines Anführers wie eines Märtyrers zugewiesen. Das ist vergleichbar mit der von Luciano Berio entwickelten und oft angewendeten konzertanten Dialektik, wo die Bestimmung des Verhältnisses Individuum – Gruppe bisweilen als Ausgangspunkt für eine Komposition diente.
C… beginnt mit einem mikrotonalen Singsang im Pianississimo. Darauf folgt rasch die Einführung einer wuchtigen rhythmischen Figur aus akzentuierten, aufsteigenden Zweiunddreißigstel-Noten. Im Zusammenhang mit der Musik von Rameau (ebenfalls ein Komponist, dem ein nervöser Stil eigen war und der im Bereich der Oper, aber auch – und das ist weniger bekannt – in allen Gattungen der Kammermusik seiner Zeit herausragend war) nennt man dies „fusée“ („Rakete“): eine charakteristische aufsteigende Notenfolge in den Streichern. Dieses Element tritt gehäuft auf und zieht das Geschehen mit sich fort. Wir befinden uns damit im zentralen Bereich von Mantovanis Stil, für den die Dramaturgie von entscheidender Bedeutung ist, wobei der Stoff aus zwei Komponenten besteht: einem Konflikt und dessen Darstellung durch das Werk.
Mantovanis drittes Streichquartett, das kurz vor Beginn der Arbeit am Cellozyklus entstand, zeigt neue Stilmerkmale, insbesondere den Einsatz der Pause als Unterbrechung des zeitlichen Ablaufs. Diese Art, Pausen einzusetzen, fand sich bereits in Le Sette chiese, einem Hauptwerk aus der noch jungen Schaffenskraft des Komponisten (2002), worin im ersten Satz die Annäherung an das Thema – die sieben Kirchen Bolognas – durch eine Tutti-Prozessionsmusik dargestellt wird, die von einer einige Sekunden dauernden Pause unterbrochen wird – vielleicht als Ausdruck einer sakralen Dimension (der französische Philosoph Jean-Luc Nancy sagt: „Ist das Sakrale das, woran man nicht denken kann, ohne zu zittern?“). Ebenfalls erkennbar ist eine gewisse Radikalisierung des Materials: Es finden komplexe, etwa durch Spektralanalysen manifeste Geräusche Eingang in den Instrumentalklang, die sich insbesondere durch die Wiederholung dichtgedrängter Motive zeigen. Auch die harmonischen Veränderungen finden fortan über einen längeren Zeitraum statt.
Genau genommen geht es dem Komponisten darum, im formalen Bereich und im großen Stil zu experimentieren. Im Jahre 2009, während seiner Arbeit am Konzert für zwei Bratschen, will Mantovani die Zeitlichkeit gefunden haben, die ihm entspricht – das Konzert dauert 35 Minuten. Seine gleichzeitig entstandene, 2010 uraufgeführte zweite Oper Akhmatova überrascht hinsichtlich der Form: Auf die eigentliche Oper, also 90 Minuten gesungene Handlung, folgt ein halbstündiges Postludium für Orchester allein. Es ist dieser Moment der schweigenden Singstimmen, der den Zuschauer erfassen lässt, unter welch schrecklichen Zwängen das Schaffen der russischen Dichterin stand. Zwischen der formalen Gestaltung und der Dramaturgie besteht also eine enge Verbindung.
Diese Methode erfährt durch Mantovani in seinem Zyklus für Violoncello eine Weiterentwicklung hin zu größerer Komplexität. Das Stück C… wird auf nicht lineare Art in das Ballett Abstract integriert werden, das der Komponist für das Festival du Printemps des Arts 2018 von Monte-Carlo schreibt. Der introvertierten Selbstbeobachtung wird am Anfang sowie in der Mitte ihr Platz zugewiesen. Und ein neues Orchesterstück wird hinzukommen: Entrechoc, eine 2016 von der japanischen Suntory Foundation in Auftrag gegebene Komposition, die ebenso bruchstückhaft angelegt ist wie Once Upon A Time. Was den Zauber dieser Musik ausmacht, ist vergleichbar mit dem, was für die Malerei von Hans Hartung – über die Striche und das Gleichmaß der Farben hinaus – gilt: Es ist die Poesie, die bewegt. Der Konflikt, der den Komponisten beschäftigt, ist einfach nur menschlich. Die Herausforderung besteht heute nicht darin, ihn zu lösen, sondern zu wissen, wie man damit umgeht.
Benoît Walther / Editions Henry Lemoine