Als erstes Werk des Serialismus verbindet Jean Barraqués „Sonate pour piano“ das neue Idiom mit der Idee der großen Form. Die Edition von Heribert Henrich leistet Pionierarbeit. Erstmals wird hier ein Notentext serieller Musik quellenkritisch ediert und dem Interpreten zugänglich gemacht.
Jean Barraqués Sonate pour piano, die immerhin bereits neunmal für Schallplatte oder CD eingespielt wurde, ist das erste seiner Werke, das der Komponist für gültig erklärte. Sie entstand hauptsächlich in den Jahren 1950 bis 1952. Geschichtliche Bedeutung kommt ihr schon deswegen zu, weil sie den ersten Versuch überhaupt darstellt, das damals neue Idiom des integralen Serialismus mit der Idee der großen durchkomponierten Form zu vereinbaren. Während Barraqués einsätziges Werk eine Dauer von etwa 40 Minuten aufweist, waren die seriellen Werke des zeitlichen Umfelds, ob von Boulez, Stockhausen oder Nono, vergleichsweise kurz oder setzten sich aus mehreren Sätzen zusammen.
Schon frühzeitig ist auf die Fehlerhaftigkeit der 1966 bei Aldo Bruzzichelli erstmals erschienenen Druckausgabe hingewiesen worden, die für jeden Pianisten ein erhebliches Hindernis bei der Erarbeitung des Werks darstellte. Nicht nur mangelnde Professionalität bei der Notenherstellung sind dafür verantwortlich zu machen, sondern auch grundsätzliche Notationsschwierigkeiten, die sich aus der Konzeption des Werkes ergeben.
Die Neuausgabe leistet Pionierarbeit, da hier zum ersten Mal überhaupt der Versuch unternommen wurde, einen Notentext aus der Blütezeit der seriellen Musik einer quellenkritischen Edition zu unterziehen. Dies setzte nicht nur minutiöse Quellenuntersuchung voraus, sondern auch erhebliche analytische Anstrengung, ließen sich verantwortbare editorische Entscheidungen doch oftmals nur unter Rekurs auf die komplexen konstruktiven Grundlagen des Werkes treffen. Dabei musste sich der Herausgeber nicht nur in dem heiklen Spannungsfeld von prädeterminierter Ordnung und kompositorischer Entscheidung bewegen, sondern er stand auch dem Phänomen der Interaktion verschiedener – gelegentlich auch einander widerstreitender – Strukturebenen gegenüber. Dies machte es erforderlich, oftmals unterschiedliche Lösungsmodelle gegeneinander abzuwägen und auch im Fall von in sich widersprüchlichen Materialkonstellationen gut begründbare Auswege zu finden. Dieses philologisch aufwendige Verfahren erklärt, neben der schieren Anzahl der im Werk verborgenen editorischen Problemfälle, warum Textteil und kritischer Kommentar an Umfang den Notentext deutlich übertreffen.
Die Edition ist über einen Zeitraum von acht Jahren entstanden. Ein vorläufiges Stadium der Ausgabe, bei dem noch der Aspekt der Praxistauglichkeit im Vordergrund stand, wurde durch Nicolas Hodges 2012 bei Ultraschall Berlin zur Aufführung gebracht. Für die Veröffentlichung als Druckausgabe wurde diese Fassung anschließend gemäß aktuellen editionsphilologischen Kriterien überarbeitet und um den hierüber detailliert Rechenschaft ablegenden Kommentar erweitert. Sämtliche greifbaren Quellen – von den Skizzen über die fragmentarischen und vollständigen Manuskripte bis hin zu den verschiedenen Korrekturunterlagen – wurden konsultiert, wobei als Leitquelle für die editorischen Entscheidungen das späteste Werkautograph diente.
- Heribert Henrich
- (aus „[t]akte“ 1/2019)