Charlotte Seithers Oculi für Frauenstimmen sind eine musikalische Reflektion über das Begehren. „Die Augen sind das Fenster, das uns zu äußerer Verlockung und zum Begehren führt. Was wir gesehen haben, das wollen wir auch haben.“ Der „Dekalog" der Guardini-Stiftung widmet sich in einem mehrjährigen Zyklus den zehn Geboten. Charlotte Seither komponiert für den Abschluss ein Auftragswerk über das 10. Gebot. Mit dem Habenwollen – Besitz, Macht, Positionen, Aufmerksamkeit, Likes – beschäftigt sich jeder täglich: Das Gebot ist so aktuell, so Seither, „weil es anregt, darüber zu reflektieren, was nötig ist, was ich eigentlich wirklich brauche“. Sie liest den hebräischen Text der Gebote genau, die keinen Imperativ enthalten: Du wirst nicht begehren, töten, stehlen, wenn Du in Gott bist. Sie interessiert der Akt der Aufklärung, der auf die Freiheit des Menschen zielt, wenn er das Begehren hinter sich lässt, auf seinen Reichtum. Es geht ihr um Positionen und Sichtweisen von heute auf den Text. Die Komponistin vertont in Oculi verwandte Dichtungen von Martin Luther, Matthias Claudius und Angelus Silesius. Ihre vierteilige Komposition umfasst drei Sätze für Frauenchor und einen gemischten Chor. Die Chorsätze entmaterialisieren den Text in einer vielfach aufgefächerten Deklamation: Die Worte werden in Klangbilder, Geräuschkomplexe, Lineaturen aufgelöst, die den Zuhörer umwehen und zur Kontemplation bringen: eine Klangwelt jenseits des Sichtbaren.
MLM
(aus [t]akte 2/2017)