Was als schön erscheint, muss nicht gut sein. Von Oscar Wildes genialer Erzählung gingen Ľubica Čekovská und ihre Librettistin aus und schufen mit Dorian Gray eine Oper, die sich großen Fragen stellt.
Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray, die zeitlos aktuelle Geschichte über Schein und Sein, wird zum Sujet der ersten Oper von Ľubica Čekovská. Die slowakische Komponistin schrieb das abendfüllende Werk im Auftrag des Nationaltheaters Bratislava auf ein Libretto von Kate Pullinger. „Das Hauptthema ist der Dualismus im Kern der Geschichte – von gut und schlecht, dunkel und hell, arm und reich“, so die Librettistin, „Dorian gehört zwei getrennten Welten an, der gehobenen Gesellschaft, hell, strahlend und glamourös, und einer dunklen, verhüllten Unterwelt im Hafenviertel von London mit Sex, Drogen und Spiel. Dieser Dualismus prägt das gesamte Libretto der Oper Dorian Gray.“ Die detailreiche Handlung in Oscar Wildes Roman (1890), der zugleich ein Sittenbild der bigotten viktorianischen Gesellschaft zeichnet, wird in der Oper auf eine stringente Szenenfolge in drei Akten konzentriert, die mit Dorians verhängnisvollen Schwur an den Verführer Lord Henry und dem Verrat an der Schauspielerin Sybil Vane sein Abstieg in die Verworfenheit beginnt.
Enigma und Schlüssel der Geschichte ist „The Picture“, das Bildnis, das an der Stelle des porträtierten Dorian Gray altert und die Züge seines Verfalls und seiner Grausamkeit annimmt. Čekovská gestaltet es als musikalische Chiffre für das Schicksal des gefallenen Engels. Es wird durch acht Knabenstimmen a cappella in einer schlicht über einem Bordun sich entfaltenden Melodie symbolisiert. „The voices of the picture“ treten im Verlauf der Handlung immer wieder auf, werden jedoch zunehmend verzerrt und verdüstert, bis sie nur noch ein fratzenhaftes Abbild der reinen Vokallinie des Beginns sind. „Diese melodische Linie ist ein Emblem für die gesamte Oper, in der für mich Kantabilität und die Kommunikation zwischen Stimme und Orchester besonders wichtig sind“, so Čekovská. Der Antagonismus der Handlung prägt auch die Komposition: Einfachheit wird gegen Komplexität gesetzt.
Die Geschichte von Dorian Gray lädt dazu ein, über das Wesen des schönen Scheins nachzudenken. Denn was schön erscheint, ist nicht unbedingt auch gut. Und wenn dies im Rahmen eines Kunstwerks, einer Oper, geschieht, macht sie automatisch ihre eigene Kunsthaftigkeit zum Thema. „In dieser kleinen Melodie und ihrer Entwicklung spiele ich mit der Konnotation von Schönheit und mit der Ambiguität dieses Begriffs“, so Čekovská. Dies geschieht auch, indem die Komponistin mit verschiedenen Stilebenen der Musik arbeitet. Die Welt der vornehmen Salons, des Theaters, der Unterwelt, wird mit entsprechenden musikalischen Stilen sinnenfällig gemacht und kulminiert in einer orgiastischen Szenerie im orientalischen Kolorit. Um die Geschichte plastisch zu erzählen, stellt Čekovská in den Gesellschaftsszenen billige, schräge, schrille Anklänge an Zirkus-, Theater- oder Salonmusik einem zunehmend dunklen Grundton entgegen und spielt mit dem Dualismus von extrem hellen Farben und einer zunehmenden dramatischen Intensität. Wie in allen ihren Werken entwickelt sie dabei den musikalischen Fluss konsequent aus einem begrenzten motivischen Material. Und als beherrschendes Thema im dramaturgischen Sinn steht die Schönheit der Stimme und der Vokallinie im Zentrum ihres Werkes.
Die Figur des Dorian Gray, der alles dem schönen Schein des eigenen Gesichts opfert und die verschiedensten Einflüsse ohne eigene Haltung absorbiert – vom mephistophelischen Lord Henry, über den idealistischen Künstler Basil bis zu den Ganoven der Unterwelt – ist für Čekovská aktueller denn je: „Wenn die glänzende Oberfläche zur alles bestimmenden Größe wird, wenn übernatürlich schöne Menschen heutzutage das Ideal der Gesellschaft sind, wenn es nur darum geht, wie schön jemand ist und nicht darum, wer oder wie er eigentlich ist, so werden die Fragen, die in der Geschichte des Dorian Gray gestellt werden, umso dringender.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2/2013)