Über den „Reformopern“ Glucks sind seine Anfänge als Komponist von Opere serie heute in den Hintergrund getreten. Demofoonte, das nun in der Gluck-Gesamtausgabe erscheint, bietet eine gute Gelegenheit für Bühnen, sich dem frühen Gluck zu nähern.
Man kann nur reformieren, was man kennt! Unter dieser Prämisse verwundert es nicht, dass Christoph Willibald Gluck, der die zunehmende Loslösung vom starren Modell der Opera seria propagierte, sich mit eben dieser Gattung in den ersten zwei Jahrzehnten seines Schaffens ausgiebig auseinandersetzte. Bei dem am 6. Januar 1743 in Mailand uraufgeführten Dramma per musica Demofoonte handelt es sich um Glucks dritte Oper und um die zweite von insgesamt vier Kompositionen für die Karnevalsspielzeiten des Teatro Regio Ducale, der zu dieser Zeit größten und renommiertesten Bühne Oberitaliens.
Die Handlung des über sechzig (!) Mal vertonten Librettos birgt die für Pietro Metastasios Werk charakteristischen Konflikte und Verwicklungen: Der Thrakerkönig Demofoonte ist durch Orakelspruch verpflichtet, alljährlich eine Jungfrau zu opfern, bis „der illegitime Erbe des Reiches sich selbst erkennen wird“. Das Los droht diesmal Dircea zu treffen, die heimlich mit dem Thronfolger Timante verheiratet ist und mit diesem einen Sohn hat. Timante wiederum soll aus Staatsräson die phrygische Prinzessin Creusa ehelichen, die eigentlich seinen Bruder Cherinto liebt. Die familiären Verwirrungen erreichen ihren Höhepunkt, nachdem Dircea sich als vermeintliche Schwester Timantes entpuppt und dieser sich in einer inzestuösen Verbindung wähnt. Für das obligatorische „lieto fine“ sorgt die Enthüllung, dass Timante nicht Demofoontes Sohn und somit auch nicht der Thronerbe ist, was zwei glückliche Ehen sowie die Abschaffung des grausamen Opferrituals in Aussicht stellt.
Glucks Vertonung bleibt ganz dem konventionellen Gattungsschema verpflichtet: In der dreiaktigen Anlage dominieren die stets durch ein Rezitativ eingeleiteten Da-capo- bzw. Dal-segno-Arien, als Ensemblestücke finden sich einzig das Liebesduett des Primarierpaares am Ende des zweiten Aktes sowie ein kurzer finaler Freudenchor der Solisten. Die Rolle des Timante schrieb Gluck dem berühmten Kastraten Giovanni Carestini auf den Leib, der in zeitgenössischen Berichten für seine „singolar abilità del canto ed azione“ gelobt wird. Der zuvor als Interpret von Händel-Opern erfolgreiche Sopranist wandelte sich zu dieser Zeit zum Altus und Gluck bevorzugte für seine Partie eine ausdrucksstarke und deklamatorische Melodik gegenüber einem effektreichen, virtuosen Stil, sparte aber im übrigen Werk auch nicht an koloraturreichen Bravourstücken neben lyrisch-empfindsamen Arien. Dass Demofoonte in Mailand mit großer Begeisterung aufgenommen wurde, zeigt nicht zuletzt die ungewöhnlich hohe Zahl von vier Wiederaufnahmen in den Jahren 1743 bis 1747, von denen sich zwei von Gluck neukomponierte Arien für die gefeierte Virtuosin Caterina Aschieri erhalten haben.
Mit den meisten frühen Opern Glucks teilt Demofoonte das Schicksal der fragmentarischen Überlieferung, ist aber nach der 1744 entstandenen Ipermestra die am umfangreichsten erhaltene Opera seria aus Glucks kompositorischer Anfangszeit: Sämtliche geschlossenen 28 Nummern sowie zwei Accompagnato-Rezitative sind in Einzelabschriften überliefert
Auf dieser Quellensituation basiert die im Rahmen der Gluck-Gesamtausgabe vorgelegte Edition, die das Werk im Gluck-Jubiläumsjahr erstmals in gedruckter Form verfügbar macht. Die Texte der nicht erhaltenen Secco-Rezitative werden im Partiturband nach dem Uraufführungslibretto wiedergegeben, so dass Rekonstruktionen und szenische Realisierungen möglich sind. Die genannten Neuvertonungen der Arien „Se tutti i mali miei“ und „Che mai risponderti“ finden sich im Anhang und bieten reizvolle Alternativfassungen für die heutige Praxis, während als Ersatz für die nicht überlieferte Sinfonia eine andere aus Glucks früher Schaffensphase dienen mag. Auf diese Weise kann 270 Jahre nach der Uraufführung an den damaligen Erfolg angeknüpft und Glucks Demofoonte erneut auf die Bühne gebracht werden.
Tanja Gölz
(aus [t]akte 1/2014)